Sankt-Petersburg-Paradoxon

Paradoxon

Das Sankt-Petersburg-Paradoxon (auch Sankt-Petersburg-Lotterie) beschreibt ein Paradoxon in einem Glücksspiel. Die Zufallsvariable hat hier einen unendlichen Erwartungswert, was gleichbedeutend mit einer unendlich großen erwarteten Auszahlung ist. Trotzdem scheint der Spieleinstieg nur einen kleinen Geldbetrag wert zu sein. Das St.-Petersburg-Paradoxon ist eine klassische Situation, in der eine naive Entscheidungstheorie, die nur den Erwartungswert als Kriterium verwendet, eine Entscheidung empfehlen würde, die keine (reale) rationale Person fällen würde. Das Paradoxon kann gelöst werden, indem das Entscheidungsmodell durch die Verwendung einer Nutzenfunktion verfeinert wird oder indem endliche Varianten der Lotterie betrachtet werden.

Das Paradox erhielt seinen Namen von Daniel Bernoullis Präsentation des Problems und seiner Lösung, die er 1738 in den Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae (Sankt Petersburg) veröffentlichte. Nikolaus I Bernoulli erwähnte das Problem jedoch schon 1713 in einem Briefwechsel mit Pierre Rémond de Montmort. In der ursprünglichen Darstellung spielt sich diese Geschichte in einem hypothetischen Kasino in Sankt Petersburg ab, daher der Name des Paradoxons.

Das Paradoxon Bearbeiten

In einem Glücksspiel, für das eine Teilnahmegebühr verlangt wird, wird eine faire Münze so lange geworfen, bis zum ersten Mal „Kopf“ fällt. Dies beendet das Spiel. Der Gewinn richtet sich nach der Anzahl der Münzwürfe insgesamt. War es nur einer, dann erhält der Spieler 1 Euro. Bei zwei Würfen (also einmal „Zahl“, einmal „Kopf“) gibt es 2 Euro, bei drei Würfen 4 Euro, bei vier Würfen 8 Euro und bei jedem weiteren Wurf verdoppelt sich der Betrag.[1] Man gewinnt also   Euro, wenn die Münze  -mal geworfen wurde.

Welcher Geldbetrag würde für die Teilnahme an diesem Spiel bezahlt werden wollen?

Sei   die Wahrscheinlichkeit, dass beim  -ten Münzwurf Zahl fällt, und   die Wahrscheinlichkeit, dass beim  -ten Münzwurf Kopf fällt. Man kommt genau dann zum  -ten Wurf, wenn man vorher  -mal Zahl geworfen hat. Also ist die Wahrscheinlichkeit, dass das erste Mal beim  -ten Münzwurf „Kopf“ fällt:

 

Wie viel kann man im Durchschnitt erwarten zu gewinnen? Mit Wahrscheinlichkeit 1/2 ist der Gewinn 1 Euro, mit Wahrscheinlichkeit 1/4 ist er 2 Euro, mit Wahrscheinlichkeit 1/8 ist er 4 Euro usw. Der Erwartungswert ist daher

 [2]

Diese Summe divergiert gegen unendlich, das heißt, im Mittel erwartet man daher einen unendlich hohen Gewinn.

Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, z. B. 512 Euro oder mehr zu gewinnen, sehr klein, nämlich gerade 1:1024 (1:2048 für mindestens 1024 Euro).

Gemäß einer Entscheidungstheorie, die auf dem Erwartungswert basiert, sollte man daher jede beliebige Teilnahmegebühr akzeptieren. Dies widerspricht natürlich einer tatsächlichen Entscheidung und scheint auch irrational zu sein, da man in der Regel nur einige Euro gewinnt. Diese offenbar paradoxe Diskrepanz führte zu dem Namen Sankt-Petersburg-Paradoxon.

Lösungen des Paradoxons Bearbeiten

Es gibt mehrere Ansätze, dieses Paradoxon zu lösen. Im Folgenden werden einige, ausgewählte Ideen vorgestellt.[3]

Erwartungsnutzentheorie Bearbeiten

Ökonomen nutzen dieses Paradoxon, um Konzepte in der Entscheidungstheorie zu demonstrieren.[4] Das Paradoxon wird dabei gelöst, indem die naive Entscheidungstheorie, die auf dem Erwartungswert basiert, durch die (vernünftigere) Erwartungsnutzentheorie (Expected Utility Theory) ersetzt wird.

Diese Theorie des sinkenden Grenznutzens des Geldes wurde schon von Bernoulli erkannt. Die Hauptidee ist hierbei, dass ein Geldbetrag unterschiedlich bewertet wird: Zum Beispiel ist der relative Unterschied in der (subjektiven) Nützlichkeit von 2 Billionen Euro zu 1 Billion Euro sicher kleiner als der entsprechende Unterschied zwischen 1 Billion Euro und gar keinem Geld. Die Beziehung zwischen Geldwert und Nutzen ist also nicht-linear. Verallgemeinert man diese Idee, so hat eine 1:100.000.000.000 Chance, 100.000.000.000 Euro zu gewinnen, zwar einen Erwartungswert von einem Euro, muss aber nicht zwingend einen Euro wert sein.

Wenn wir nun eine Nutzenfunktion, wie die von Bernoulli vorgeschlagene Logarithmusfunktion  , verwenden, so hat die Sankt-Petersburg-Lotterie einen endlichen Wert:

 

In Bernoullis eigenen Worten:

„[…] es ist hier nämlich der Wert einer Sache nicht aus ihrem bloßen Preise (Geld- oder Tauschwert) zu bestimmen, sondern aus dem Vorteil, den jeder einzelne daraus zieht. […] So muß es zweifellos für einen Armen mehr wert sein, tausend Dukaten zu gewinnen, als für einen Reichen, obschon der Geldwert für beide der gleiche ist.“[5]

Diese Lösung ist jedoch noch nicht vollauf befriedigend, da die Lotterie in einer Weise geändert werden kann, dass das Paradox wieder auftritt: Dazu müssen wir lediglich die Lotterie so ändern, dass die Auszahlungen   betragen, dann ist der Wert der Lotterie, berechnet mit der logarithmischen Nutzenfunktion, wieder unendlich.

Allgemein kann man für jede unbeschränkte Nutzenfunktion eine Variante des Sankt-Petersburg-Paradoxons finden, die einen unendlichen Wert liefert, wie von dem österreichischen Mathematiker Karl Menger als erstem bemerkt wurde.[6]

Es gibt nun im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, dieses neue Paradoxon, das zuweilen Super-Sankt-Petersburg-Paradoxon genannt wird, zu lösen:

  • Man kann berücksichtigen, dass ein Kasino nur Lotterien mit einem endlichen Erwartungswert anbieten würde. Unter dieser Annahme lässt sich zeigen, dass das Paradoxon verschwindet, falls die Nutzenfunktion konkav ist, was bedeutet, dass man eine Risikoaversion (zumindest für hohe Geldbeträge) voraussetzt.[7]
  • Man kann annehmen, dass die Nutzenfunktion nach oben beschränkt ist. Dies bedeutet nicht, dass die Nutzenfunktion ab einem bestimmten Wert konstant sein muss. Als Beispiel betrachte  .

In den letzten Jahren wurde die Expected Utility Theory erweitert, um Entscheidungsmodelle zu erhalten, die das reale Verhalten von Testpersonen quantitativ besser beschreiben. In einigen dieser neuen Theorien, wie der Cumulative Prospect Theory, taucht das Sankt-Petersburg-Paradox in einigen Fällen auch dann auf, wenn die Nutzenfunktion konkav und der Erwartungswert endlich ist, jedoch nicht, wenn die Nutzenfunktion beschränkt ist.[8]

Endliche Sankt-Petersburg-Lotterie Bearbeiten

In der klassischen Variante der Sankt-Petersburg-Lotterie hat das Kasino unbegrenzte Geldvorräte. Es gibt also keinen Gewinn, den das Kasino nicht auszahlen könnte, und das Spiel könnte beliebig lange gehen.

Geht man hingegen von einem realen Kasino mit einem Kapital von   aus, dann kann das Kasino nicht mehr als einen maximalen Gewinn auszahlen. Erreicht der Spieler die daraus resultierende Grenze von   Münzwürfen, dann wird ihm der Gewinn an dieser Stelle ausgezahlt und das Spiel abgebrochen. Diese Grenze   legt das Kasino vorher fest.

Man erhält nun einen endlichen Erwartungswert. Zur Berechnung verwendet man die Formel

 

mit  .

Folgende Tabelle zeigt, welche Erwartungswerte die endliche Sankt-Petersburg-Lotterie für verschiedene Kasinotypen hat:

Kasinokapital K max. Spiellänge N Erwartungswert E
100 € 7 4 € Spiel unter Freunden
100 Millionen € 27 14 € (normales) Kasino
18 Billionen € 44 22,50 € BIP der EU 2009

Begrenzung der Nutzenfunktion aufgrund einer endlichen Lebensdauer Bearbeiten

Eine Beschränkung des Nutzens kann auch mit der Lebenszeit des Menschen begründet werden. Der Nutzen eines Gewinns in dem St.-Petersburg-Spiel für einen Menschen mit begrenzter Lebensdauer ist zwangsläufig ebenfalls begrenzt.

Ignoranz unwahrscheinlicher Ereignisse Bearbeiten

Eine weitere Lösungsidee besteht in der Erklärung, dass reale Entscheidungsträger sehr unwahrscheinliche Ereignisse komplett ignorieren. D. h. anstelle der mathematisch korrekten Berücksichtigung sehr kleiner Werte werden diese vollständig ignoriert. Darauf wiesen schon Jean-Baptiste le Rond d’Alembert 1773 und Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon 1777 hin.

Zweifel am logischen Zustandekommen Bearbeiten

Einige Autoren[9][10] sehen einen logischen Widerspruch bei der Konstruktion des Paradoxes. Sie bezweifeln das Zustandekommen des St.-Petersburg-Spiels und somit die Existenz des darauf beruhenden Paradoxes aufgrund logischer Gründe. Dieses Argument wird mit Blick auf den Spieler, aber auch auf den Gegenspieler vorgebracht. Mit Blick auf den Spieler stellt sich folgende Frage: Welches rationale Individuum glaubt, dass der Gegenspieler/die Spielbank in der Lage ist, den Spielgewinn zu liefern, wenn der Erwartungswert des Spieles unendlich hoch ist?

Zweifel am praktischen Zustandekommen Bearbeiten

Aus praktischer Sicht wird eingewendet, dass:[11]

  • jeder Münzwurf eine bestimmte Zeit benötigt, weshalb die erforderliche Zeit für eine unendliche Anzahl an Versuchen nicht zur Verfügung steht und/oder
  • keine Spielbank eine unendliche Gewinnsumme vorhalten kann.

Ersatz des maximalen Nutzens durch die maximale Wahrscheinlichkeit Bearbeiten

Eine weitere Lösung wird durch eine veränderte Zielstellung möglich. Sämtliche bisher vorgestellten Studien und Erklärungen basieren auf der Annahme, dass der Akteur den erwarteten Nutzen maximieren möchte. Das reale Verhalten legt jedoch den Schluss nahe, dass die Probanden versuchen, die Wahrscheinlichkeit der Lotterie zu maximieren. Sie suchen demzufolge die stochastisch optimale Lotterie.[12]

Experimentelle Analysen Bearbeiten

Neben den theoretischen Analysen sind experimentelle Untersuchungen zu nennen. Ein frühes Experiment wurde 1777 von Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon durchgeführt.[13] Später wurden weitere Experimente durchgeführt, um die frühen Ergebnisse zu überprüfen.[14][15] Darüber hinaus wurde z. B. auf der Basis von 1 Mrd. Versuchen gezeigt, dass die Gewinnsumme im St.-Petersburg-Spiel einem Potenzgesetz folgt. Eine Verdopplung der Gewinnwahrscheinlichkeit führt zu einer Halbierung der Gewinnsumme.[16]

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Manon Bischoff: Das Sankt-Petersburg-Paradoxon: Spielen um jeden Preis? In: spektrum.de, 16. Juni 2022, abgerufen am 20. Juni 2022.
  2. Daniel Bernoulli: Exposition of a new theory on the measurement of risk. S. 31.
  3. Für einen zusammenfassenden Überblick vgl. David Müller: Investitionscontrolling 2: Entscheidungstheorie . 3. Aufl. Springer Gabler, Wiesbaden 2022, ISBN 978-3-658-36596-7, S. 306–314.
  4. Für einen Überblick siehe Thorsten Hens und Marc Oliver Rieger (2016): Financial Economics: A Concise Introduction to Classical and Behavioral Finance . Springer-Verlag, Chapter 2.
  5. Alfred Pringsheim Daniel Bernoulli: Die Grundlage der modernen Wertlehre: Daniel Bernoulli, Versuch einer neuen Theorie der Wertbestimmung von Glücksfällen. (Specimen Theoriae novae de Mensura Sortis). Aus dem Lateinischen übersetzt und mit Erläuterungen versehen von Professor Dr. Alfred Pringsheim. Mit einer Einleitung von Dr. Ludwig Fick. 1896 (archive.org [abgerufen am 12. Dezember 2020]).
  6. Karl Menger: Das Unsicherheitsmoment in der Wertlehre – Betrachtungen im Anschluß an das sogenannte Petersburger Spiel. In: Zeitschrift für Nationalökonomie. Band 5, 1934, S. 459–485, doi:10.1007/BF01311578.
  7. Vergleiche Kenneth Arrow (1974): The use of unbounded utility functions in expected-utility maximization: Response. In: Quarterly Journal of Economics, Vol. 88, pp. 136–138.
  8. Marc Oliver Rieger, Mei Wang: Cumulative prospect theory and the St. Petersburg paradox. Economic Theory, Vol. 28, issue 3, 2006. Seiten 665–679.
  9. John Maynard Keynes, A treatise on probability. London: Macmillan, S. 316–320.
  10. Lloyd S. Shapley, The St. Petersburg paradox: A con game? In: Journal of Economic Theory, 14 (2), S. 439–442
  11. David Müller: Investitionscontrolling 2: Entscheidungstheorie . 3. Aufl. Springer Gabler, Wiesbaden 2022, ISBN 978-3-658-36596-7, S. 311–312.
  12. David Müller: Investitionscontrolling 2: Entscheidungstheorie . 3. Aufl. Springer Gabler, Wiesbaden 2022, ISBN 978-3-658-36596-7, S. 314.
  13. David Müller: Investitionscontrolling 2: Entscheidungstheorie . 3. Aufl. Springer Gabler, Wiesbaden 2022, ISBN 978-3-658-36596-7, S. 313.
  14. Jacques Dutka (1988): On the St. Petersburg paradox. In: Archive for History of Exact Sciences, 39 (1), S. 36–37.
  15. Robert W. Vivian (2013): Ending the myth of the St. Petersburg paradox. In: South African Journal of Economic and Management Sciences, 16 (3), S. 356–360.
  16. Sergio Da Silva, Raul Matsushita (2016): The St. Petersburg paradox: An experimental solution. In: Physica A: Statistical Mechanics and its Applications, 445 (1): 66–74.