SIR-Modell

Modell zur Ausbreitung von Infektionskrankheiten

Als SIR-Modell (susceptible-infected-removed model) bezeichnet man in der mathematischen Epidemiologie, einem Teilgebiet der theoretischen Biologie, einen klassischen Ansatz zur Beschreibung der Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten mit Immunitätsbildung, der eine Erweiterung des SI-Modells darstellt. Benannt ist es nach der Gruppeneinteilung der Population in Suszeptible (S), das heißt Ansteckbare, Infizierte (I) und aus dem Infektionsgeschehen entfernte Personen (R), wie unten erläutert. Die Erweiterung des SIR-Modells unter Einbezug der Exponierten, also Personen, die infiziert, aber noch nicht ansteckend sind, wird mit dem SEIR-Modell beschrieben. Üblicherweise wird ein deterministisches, durch miteinander verknüpfte gewöhnliche Differentialgleichungen formuliertes Modell betrachtet, bei dem die Variablen kontinuierlich sind und großen Gesamtheiten entsprechen. Es werden aber auch andere, insbesondere stochastische Modelle mit SIR bezeichnet, die mit dem deterministischen SIR-Modell die Gruppeneinteilung gemeinsam haben.

Zeitlicher Verlauf der drei Gruppen S, I und R mit den Startwerten , , sowie Infektionsrate und Rate für die Gruppe R. Die Raten sind in der Zeiteinheit Tag. Die Definition von ist der im Haupttext angepasst.
Stehen weder Medikamente noch eine Impfung zur Verfügung, so kann man nur die Zahl der Ansteckungen durch geeignete Maßnahmen reduzieren. Diese Animation zeigt, wie sich eine Senkung der Infektionsrate um 76 % (von auf ) auswirkt (die übrigen Parameter sind wie in der Grafik oben , , und ). Die Angaben zu sind dem Artikeltext angepasst, die Werte in der Abbildung entsprechen mit .

Das Modell stammt von William Ogilvy Kermack und Anderson Gray McKendrick (1927)[1] und wird auch manchmal nach beiden benannt (Kermack-McKendrick-Modell). Die Autoren konnten damit trotz der Einfachheit des Modells gut die Daten einer Pestepidemie in Bombay 1905/06 modellieren.

Differentialgleichungen Bearbeiten

Beim SIR-Modell werden drei Gruppen von Individuen unterschieden: Zum Zeitpunkt   bezeichnet   die Anzahl der gegen die Krankheit nicht immunen Gesunden (susceptible individuals),   die Zahl der ansteckenden Infizierten (infectious individuals) sowie   die Anzahl der aus dem Krankheitsgeschehen „entfernten“ Personen (removed individuals). Letzteres erfolgt entweder durch Genesen mit erworbener Immunität gegen die Krankheit oder durch Versterben.[2][3] In anderer Lesart sind es die resistenten Personen.[4] Weiterhin sei   die Gesamtzahl der Individuen, das heißt:

 

Der einfacheren Schreibweise wegen wird die Zeitabhängigkeit bei   im Folgenden weggelassen. Es gilt für jede Zeit  ,  ,  ,  .

Im SIR-Modell werden eine Reihe von Annahmen gemacht:

  • Jedes Individuum kann von einem Erreger nur einmal infiziert werden und wird danach entweder immun oder stirbt.
  • Infizierte sind sofort ansteckend, eine Annahme die im SEIR-Modell nicht getroffen wird.
  • Die jeweiligen Raten sind konstant.
  • Die durch die Infektion Verstorbenen werden wie die Immunisierten zu   gerechnet.

Dann sind die Ratengleichungen des SIR-Modells:[4]

 
 
 

Mit den Raten:

  Rate, mit der infizierte Personen in der Zeiteinheit genesen oder sterben (da die Toten auch zu   gerechnet werden)
  allgemeine Sterberate pro Person einer Population (also „pro Kopf“)
  Geburtsrate pro Person einer Population (also „pro Kopf“)
 , die Rate, die die Anzahl neuer Infektionen angibt, die ein erster infektiöser Fall pro Zeiteinheit verursacht.   wird auch als Transmissionsrate oder Transmissionskoeffizient bezeichnet.[5]

  kann weiter aufgeschlüsselt werden:  , mit   der Kontaktrate und der Wahrscheinlichkeit   einer Infektionsübertragung bei Kontakt.

Die Infektionsrate (englisch force of infection)  , also die „pro Kopf“ Rate mit der suszeptible Personen infiziert werden, ist

 

wobei   den Anteil infizierter Personen an der Gesamtbevölkerung und damit die Wahrscheinlichkeit des Kontakts mit einer infizierten Person darstellt. Es werden   Personen pro Zeiteinheit infiziert.

Vernachlässigt man die Geburts- und Sterberaten   (N ist dann konstant) ergeben sich die Gleichungen:

 
 
 

Die Gleichungen sind ähnlich den Lotka-Volterra-Gleichungen in Räuber-Beute-Systemen und gekoppelten Bilanzgleichungen auf vielen anderen Gebieten (Replikatorgleichungen).

In der Literatur wird zuweilen eine Variante der Gleichungen benutzt, in die der Transmissionskoeffizient   eingeht und dabei oft ebenfalls mit   bezeichnet wird, obwohl er einen anderen Wert hat: Ist etwa   und unser Koeffizient oben  , so muss in die Variante der Differentialgleichung der Wert   eingesetzt werden. Verwenden wir der Klarheit halber einen anderen Bezeichner  , so schreibt sich die erste Differentialgleichung in der Variante:[Anm. 1]

 

Basisreproduktionszahl und Verlauf einer Epidemie Bearbeiten

Die Basisreproduktionszahl ist

 

beziehungsweise

 

Hierbei wird die übliche Bezeichnung für die Basisreproduktionszahl benutzt (sie ist nicht mit dem Anfangswert   der Anzahl resistenter Personen zum Zeitpunkt   zu verwechseln, der zuweilen auch mit   bezeichnet wird).

Die Basisreproduktionszahl   gibt an, welche Anzahl an weiteren Infektionen eine infizierte Person (während der Gesamtdauer ihrer infektiösen Periode) in der Anfangszeit der Epidemie in einer komplett suszeptiblen Bevölkerung verursacht. Neben   tritt hier noch der Faktor   auf, der die Dauer der infektiösen Periode angibt. In der Anfangszeit einer Epidemie kann man näherungsweise Geburts- und Sterberaten vernachlässigen, also   setzen; dann erhält man die am Schluss des letzten Abschnitts angegebene Form der SIR-Gleichungen. Für den Beginn einer Epidemie muss   sein und folglich (da am Anfang   gilt) gemäß den SIR-Gleichungen   und somit   (siehe auch den folgenden Abschnitt über die diskretisierte Form der Gleichungen).

Im weiteren Verlauf wächst nach den SIR-Gleichungen die Zahl der Infizierten  , wenn  , also   und damit

 

Links steht das Produkt aus Basisreproduktionszahl und Anteil   der Infizierbaren (Suszeptiblen) an der Population. Letzterer ist gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, bei einem Kontakt auf einen Infizierbaren zu treffen. Die Ungleichung ist gleichbedeutend mit[4]

 

Das Wachstum der Infizierten nimmt ab (Abflauen bzw. Ende der Epidemie), falls   den Wert   unterschreitet. Bei einem Wert der Basisreproduktionszahl   wäre das die Hälfte der Bevölkerung und bei   ein Drittel, so dass im ersten Fall die Hälfte und in letzterem Fall zwei Drittel der Population infiziert oder resistent sind, d. h. nicht mehr empfänglich für eine Infektion sind; man spricht dann von „Herdenimmunität“.


Im Sinne der mathematischen Stabilitätstheorie ist die Herdenimmunität die Stabilität des Zustands ohne Infektion, der im Fall   durch die konstante Lösung S = N, I = 0, R = 0 des obigen Gleichungssystems beschrieben wird. Der Zustand ohne Infektion ist stabil wenn   ist, und er ist instabil, wenn   ist. In diesem Fall existiert eine zweite konstante Lösung, nämlich

  ,
 ,
 .

In der realen Welt entspricht dieser Lösung ein Zustand, in dem die Infektion endemisch ist.


Bei Influenza liegen beispielsweise die Basisreproduktionszahlen üblicherweise zwischen 2 und 3.

Diskretisierte Form der Differentialgleichungen Bearbeiten

Die diskretisierte Form der Differentialgleichungen mit Zeitschritt   lautet:[6]

 
 
 

  entspricht der Zahl neu Infizierter Personen im Beobachtungszeitraum  , also dem was auch in den offiziellen Statistiken als Zahl Neuinfizierter auftaucht,[6] wobei in der Praxis Korrekturen für Meldeverzug und anderes angebracht werden. Häufig wird ein Tag als Zeiteinheit und als Beobachtungszeitraum für die Meldung gewählt und   gesetzt.

Für die Ableitung der Basisreproduktionszahl betrachte man die diskretisierte Form (Schritt  ) der Differentialgleichung für  :

 

Mit der Dauer der infektiösen Periode   eingesetzt für   und nach Definition der Basisreproduktionszahl   bzw. Nettoreproduktionszahl  :

 

wobei am Anfang der Epidemie   als   bezeichnet wird, ergibt sich

 

Damit ist

 

und für  , da am Beginn der Epidemie  , ergibt sich:

 

Mathematische Behandlung Bearbeiten

Mit Hilfe des SIR-Modells können wir für gegebene Anfangswerte   bestimmen, ob der Krankheitsverlauf in einer Epidemie münden wird. Diese Frage ist äquivalent zu der Frage, ob die Zahl der Infizierten zum Zeitpunkt   steigt. Betrachte die Ableitung:

 .

Hierbei nennen wir   den Schwellenwert einer Epidemie, da aus   für alle Zeiten die Ungleichung   für alle   folgt und für   die Epidemie abflaut:

 .

für alle  .

Eine Epidemie tritt im SIR-Modell also genau dann auf, wenn   ist. Dies ist eine wesentliche Aussage des Modells, auch als Schwellwert-Theorem bekannt.[7] Um eine Epidemie zu starten, muss eine Mindestdichte von Infizierbaren vorhanden sein. Wird die Zahl der Infizierbaren im Lauf der Epidemie umgekehrt unter diese Schwelle gedrückt, erlischt die Epidemie.

Maximale Zahl der Infizierten Bearbeiten

Aus den obigen Differentialgleichungen für   und   folgt:

 .

Integration durch Trennung der Variablen liefert:

 

mit   der Logarithmusfunktion. Die Funktion   ist ein erstes Integral des Systems und konstant auf den Trajektorien des Systems im durch   und   gegebenen Phasenraum. Die maximale Zahl der Infizierten ergibt sich offensichtlich für   und bei  . Mit der obigen Gleichung ergibt sich unter Annahme von  :

 

Setzt man   und   sowie   erhält man:

 

Aus den ersten Integralen ergibt sich auch die Gleichung für   („final size equation“):

 

aus den Werten für   (mit  ) und   (mit  ). Die Gleichung kann zur Bestimmung von   benutzt werden. Insbesondere ergibt sich für   die Lösung  , das heißt, es gibt keinen Ausbruch.[8]

Zahl der „Überlebenden“ Bearbeiten

Es stellt sich auch die Frage, ob die Epidemie überhaupt „überlebt“ wird, das heißt, ob am Ende noch Suszeptible übrigbleiben. Dazu berechnen wir  , also   mit der Zeit   gegen Unendlich ( ). Analog ergibt sich aus den obigen Differentialgleichungen

 ,

deren Lösung

 

ist, mit der Exponentialfunktion  .

Damit folgt offensichtlich  , es wird also nicht die gesamte Population infiziert. Aus   folgt damit außerdem  . Es zeigt sich, dass es am Ende einer Epidemie weniger an Suszeptiblen als eher an Infizierten mangelt!

Näherungen: Reduziere Zahl der Parameter Bearbeiten

 
Das in den Lösungen des SIR-Modells vorkommende Quadrat des Sekans hyperbolicus (rot) hat eine noch steilere Flanke als der Sekans hyperbolicus selbst.

Wenn wir die Anfangswerte   kennen, können wir mit den obigen Differentialgleichungen schnell die Dynamik einer Krankheit bestimmen. Oft lassen sich aber gerade diese Konstanten nur schwer bestimmen, weshalb wir im Folgenden die obigen Gleichungen nähern wollen.

Aus den besprochenen Differentialgleichungen folgt sofort[9]

 

Die Gleichung vereinfacht sich zu einer riccatischen Differentialgleichung, wenn   durch die ersten 3 Summanden der Taylorreihe um   angenähert wird:

 

also

 

wobei eingeführt wurden:

 
 

Die Funktion   ist der Sekans hyperbolicus und   der Tangens hyperbolicus,   dessen Umkehrfunktion.

Damit lässt sich die Differentialgleichung für   mit nur drei Parametern ausdrücken:

 

Diese drei Parameter sind also   (bei dem anfänglich exponentiellen Wachstum entspricht   mit   der Verdopplungszeit), die Phase   und  . Je nach Datenlage kann hierbei die Differentialgleichung oder die implizite Gleichung für   verwendet werden.

Setzt man   und   erhält man   und damit:

 

Mit   erhält man einen Näherungswert für das „Ausmaß der Epidemie“  :

 

Damit erhält man den zweiten Teil des Schwellwerttheorems. Sei am Anfang   mit  , dann ist das „Ausmaß der Epidemie“:

 

und  . Die Anzahl suszeptibler Personen ist am Ende um   gegenüber dem Stand vor der Epidemie reduziert.

Für die Zahl der Infizierten ergibt sich gemäß der letzten Differentialgleichung im SIR-Modell:

 

Der Verlauf von   hat die Form einer Glockenkurve mit anfangs exponentiellem Anstieg. Kermack und McKendrick fanden zum Beispiel für die Pestepidemie in Bombay 1905/06 (mit fast immer tödlichem Ausgang, so dass  , als Zeiteinheit für die Raten wurde eine Woche genommen) gute Übereinstimmung mit:[10]

 

Die gute Übereinstimmung machte dies zu einem häufig zitierten Beispiel in der mathematischen Epidemiologie, ist aber auch kritisiert worden.[11]

David George Kendall fand 1956 exakte Lösungen für   und das SIR-Modell,[12] doch werden die Differentialgleichungen meist numerisch gelöst.

Erweiterung des Modells Bearbeiten

 
Dieses SIRD-Modell stellt den zeitlichen Verlauf der vier Gruppen S, I, R und D dar für die Startwerte  ,  ,   sowie Infektionsrate   (identisch mit Werten der Grafik für das SIR-Modell oben), einer Rate   für die Gruppe R sowie Mortalitätsrate  

Will man die Toten separat betrachten (statt zur Gruppe R hinzuzurechnen), so kann man es zum SIRD-Modell (Susceptible-Infected-Recovered-Deceased-Model) erweitern. Hierbei gehören zur Gruppe R nur die Individuen, welche die Krankheit überlebt haben und immun geworden sind, und die Gestorbenen bilden eine eigene Gruppe D.[13]

Hierbei ist folgendes System von Differentialgleichungen zu lösen:[Anm. 2]

 
 
 
 

Zum Zeitpunkt   gibt   die Zahl der Genesenen und   die Anzahl der an der Krankheit Verstorbenen an. Weiter bedeutet   die Rate, mit der Infizierte gesunden, und   die Mortalitätsrate, mit der Infizierte versterben.  ,   sowie Transmissionsrate   haben dieselbe Bedeutung wie beim SIR-Modell.

Eine weitere Modifikation berücksichtigt die Impfung von Neugeborenen mit einem Anteil  :

 
 
 

Es gibt auch Varianten, in denen zwei (oder mehr) Bevölkerungsgruppen betrachtet werden, zum Beispiel die Wechselwirkung einer Kerngruppe, die besonders aktiv eine Infektion befördert, mit der Restpopulation.[4]

Stochastische SIR-Modelle[4] dienen der Untersuchung kleinerer Populationen, die mit deterministischen Modellen nicht gut behandelt werden können. Dabei werden nur ganzzahlige Werte der Populationsanteile betrachtet und statistische Verteilungen für die Übergangsraten wie  . Der Verlauf von Epidemien ist hier nicht deterministisch vorbestimmt, d. h. eine Epidemie kann auch bei   stoppen, wenn zufällig in der Infektionsperiode (infektiöse Periode, d. h. der Zeitspanne, in der ein Infizierter die Infektion übertragen kann) keine Kontakte stattfinden. Meist werden Simulationen (üblicherweise mit Monte-Carlo-Verfahren) mit den gleichen Parametern mehrfach durchgeführt und die Ergebnisse dann statistisch ausgewertet.

Eine Variante, die Quarantänemaßnahmen und Isolierungsmaßnahmen wie Soziale Distanzierung berücksichtigt, wurde für die Erklärung subexponentiellen Wachstums, das heißt Wachstum der Infizierten gemäß einem Potenzgesetz in der Zeit, bei COVID-19 in China ab Ende Januar 2020 herangezogen (SIR-X-Modell).[14] Die Differentialgleichungen lauten in diesem Fall nach Dirk Brockmann und Benjamin Maier (mit Anpassung an die hier gebrauchte Form der SIR-Gleichungen):

 
 
 
 

Dabei ist   eine neu eingeführte Gruppe von symptomatischen infizierten Personen in Quarantäne und Isolation. Sie soll auch dem empirischen Vergleich mit den offiziell gemeldeten und bestätigten Fällen dienen.   sind die aus dem weiteren Infektionsgeschehen im Modell Entfernten (removed), entweder weil verstorben, genesen oder durch die allgemeinen Isolationsmaßnahmen, so weit sie nicht unter   fallen. Die allgemeinen Maßnahmen zur Kontaktreduzierung werden mit   beschrieben (soziale Distanzierung u. a.) und betreffen Infizierte und nicht Infizierte gleichermaßen, die speziellen Quarantänemaßnahmen für Infizierte mit dem Koeffizienten  . Entfallen die jeweiligen Maßnahmen ist  . Es ergibt sich ein neues effektives

 

mit einer effektiven Infektionsperiode

 .

Dieses neue effektive   ist kleiner als  . Eine andere Methode den Einfluss von isolierenden Maßnahmen zu simulieren besteht darin, für   zeitlich variable Ansätze zu machen.[15]

Eine weitere Erweiterung besteht darin, nicht die Gesamtzahl der Infizierten, sondern deren Dichte (Zahl der Infizierten pro Flächeneinheit) zu berechnen, sodass auch die Verteilung der Infizierten im Raum betrachtet werden kann. Hierzu wird das gewöhnliche SIR-Modell um Diffusionsterme erweitert:

 

wobei  ,   und   Diffusionskonstanten sind. Auf diese Weise erhält man eine Reaktions-Diffusions-Gleichung. (Damit die Einheiten korrekt sind, muss der Parameter   modifiziert werden.) SIR-Modelle mit Diffusion wurden beispielsweise zur Beschreibung der Ausbreitung der Pest in Europa verwendet.[16] Erweiterte raumzeitliche SIR-Modelle ermöglichen die Beschreibung von kontaktreduzierenden Maßnahmen (social distancing).[17]


Auch für Infektionsmodelle mit Diffusion kann eine Basisreproduktionszahl   definiert werden. Mehrere Arbeiten haben dies für SIS-Modelle geleistet.[18][19] Später wurde   für ein SIR-Modell mit Diffusion berechnet.[20] Es ist bemerkenswert, dass alle diese Arbeiten zu dem Schluss kommen, dass   eine fallende Funktion der Diffusionskonstanten   ist.

Das Diffusionsmodell gestattet die Anwendung von üblichen mathematischen Methoden, aber es ist wenig realistisch, denn die menschliche Mobilität ist anders geartet als die Diffusion eines Gases. Die meisten Menschen verlassen ihren Wohnsitz nur vorübergehend, und können dann an verschiedenen Orten infiziert werden oder andere Menschen infizieren. Diesen Mechanismus beschrieb Kendall,[21] indem er I(x,y,t) in den Gleichungen für S und I ersetzte durch das Integral   wo der Term h(u,v) angibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine infektiöse Person mit Wohnsitz in (x,y) auf eine Person mit Wohnsitz in der Nähe von (x+u, y+v) trifft. Wenn man I(x+u, y+v) in eine Taylorreihe nach u und v bis zum zweiten Grad entwickelt. dann erhält man eine partielle Differentialgleichung, in der die unbekannten Funktionen S und I auch in dem Produkt   auftreten. Deshalb ist diese Gleichung schwieriger zu behandeln als eine Reaktions-Diffusions-Gleichung. Bailey hat den Ansatz von Kendall weiter entwickelt.[22]

Ein von Matthias Kreck und Erhard Scholz entwickeltes an COVID-19 adaptiertes Modell berücksichtigt Effekte von Impfungen, Massentests und Mutanten. Das Modell wurde speziell auf die Entwicklung in Deutschland angewendet. Ein vergleichsweise milder Eingriff, der die Zeit bis zur Quarantäne um einen Tag reduziert kann zu einer drastischen Verbesserung führen, ebenso bestimmte Massentestungen. Das von Kreck und Scholz angepasste SIR-Modell weist im Unterschied zu dem Standard-SIR-Modell erhebliche Unterschiede auf, wenn die Kontaktraten nicht konstant sind. Die Modell-Reproduktionsrate weicht von der des RKI ab.[23]

Siehe auch Bearbeiten

Literatur Bearbeiten

  • N. F. Britton: Essential Mathematical Biology. 1. Auflage. Springer, Berlin 2003, ISBN 1-85233-536-X.
  • Michael Li: An introduction to mathematical modeling of infectious diseases, Springer, 2018

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Kermack, McKendrick: A contribution to the mathematical theory of epidemics. Proc. Roy. Soc. A, Band 115, 1927, S. 700–721.
  2. Sebastian Möhler: Ausbreitung von Infektionskrankheiten. (tu-freiberg.de [PDF; abgerufen am 12. März 2020]).
  3. Regina Dolgoarshinnykh: Introduction to Epidemic Modelling. (columbia.edu [PDF; abgerufen am 12. März 2020]).
  4. a b c d e Eichner, Kretzschmar: Mathematische Modelle in der Infektionsepidemiologie. In: A. Krämer, R. Reintjes (Hrsg.): Infektionsepidemiologie. Springer, 2003, S. 81–94.
  5. Michael Li: An introduction to mathematical modeling of infectious diseases. Springer, 2018, Abschnitt 2.1, Kermick-McKendrick-Model.
  6. a b Viola Priesemann u.a.: Inferring change points in the spread of COVID-19 reveals the effectiveness of interventions. Science, 15. Mai 2020.
  7. Norman Bailey: The mathematical theory of infectious diseases. Griffin and Company, 1975, S. 11, treshold theorem.
  8. Odo Diekmann, Hans Heesterbeek, Tom Britton: Mathematical tools for understanding infectious disease dynamics. Princeton UP 2013, S. 15.
  9. Die nachfolgende Ableitung mit den zugehörigen Formeln findet sich z. B. in Michael Li: An introduction to mathematical modeling of infectious diseases. Springer, 2018, S. 45.
  10. Kermack, McKendrick: A contribution to the mathematical theory of epidemics. Proc. Royal Soc. A, Band 115, 1927, S. 714.
  11. Nicholas Bacaer: The model of Kermack and McKendrick for the plague epidemic in Bombay and the type reproduction number with seasonality. Journal of Mathematical Biology, Band 64, 2012, S. 403–422. Danach sind die erhaltenen konstanten Parameter unrealistisch und die Pestepidemie trat 1897 bis mindestens 1911 saisonal in Bombay auf, gekoppelt an die Rattenpopulation, so dass ein komplexeres Modell nötig ist.
  12. D. G. Kendall: Deterministic and stochastic epidemics in closed populations. Proc. Third Berkeley Symposium Math. Stat. & Prob., Band 4, 1956, University of California Press, S. 149–165 (Project Euclid).
  13. Amenaghawon Osemwinyen, Aboubakary Diakhaby: Mathematical Modelling of the Transmission Dynamics of Ebola Virus. Juli 2015 (researchgate.net [abgerufen am 12. März 2020]).
  14. Benjamin Maier, Dirk Brockmann: Effective containment explains subexponential growth in recent confirmed COVID-19 cases in China. Science, 8. April 2020 (Online).
  15. Zum Beispiel Q. Lin u.a.: A conceptual model for the coronavirus disease 2019 (COVID-19) outbreak in Wuhan, China with individual reaction and governmental action. Int. J. Infectious Diseases, Band 93, 2020, S. 211–216.
  16. J.V. Noble: Geographic and temporal development of plagues. In: Nature. 250. Jahrgang, 1974, S. 726–729, doi:10.1038/250726a0 (englisch).
  17. Michael te Vrugt, Jens Bickmann, Raphael Wittkowski: Effects of social distancing and isolation on epidemic spreading modeled via dynamical density functional theory. In: Nature Communications. 11. Jahrgang, 2020, S. 5576, doi:10.1038/s41467-020-19024-0 (englisch).
  18. R. Peng (2009). Asymptotic profiles of the positive steady state for an SIS epidemic reaction-diffusion model. J. Differ. Equations 247, 1096-1119
  19. Y. Wu, X. Zou (2016). Asymptotic profiles of steady states for a diffusive SIS epidemic model with mass-action infection mechanism. J. Differ. Equations 261, 4424-4447
  20. H. Knolle,J. Santanilla, SIR epidemic models with spatial spread in bounded domains. Electronic J. of Diff. Equations, Special Issue 01 (2021), S. 315-325. ISSN 1072-6691
  21. D. G. Kendall (1965). Mathematical models of the spread of infection. In: Mathematics and Computer Science in Biology and Medicine, 213-225. London: H. M. S. O.
  22. Norman Bailey. The Mathematical Theory of Infectous Diseases. London: Griffin 1975, Chapter 9
  23. Matthias Kreck, Erhard Scholz: Back to the roots: A discrete Kermack-McKendrick model adapted to Covid-19. 1. April 2021 (cornell.edu [abgerufen am 10. Juli 2021]).

Anmerkungen Bearbeiten

  1. Diese Form (in der   nicht vorkommt) benutzen Kermack und McKendrick für ihr SIR-Modell. Auf S. 713 benutzen sie die Funktionen   für   sowie   für Infektionsrate bzw. die Rate für die Gruppe R und schreiben
     
     
     
  2. Die in der Quelle angegebenen Differentialgleichungen sind hierbei der Vergleichbarkeit halber in dieselbe Form gebracht worden wie beim SIR-Modell oben. Es gibt in der Literatur keine einheitliche Verwendung der Parameter; neben der obigen DGL   ist z. B. auch   (Infektionsrate der Klarheit halber hier   benannt) üblich. Es gilt dann die Identität  . Bei den oben verwendeten Abbildungen ist  , und die Beschreibungen auf Wikimedia Commons beziehen sich auf die letztgenannte Variante der DGL, sodass die dort genannten Infektionsraten nur   der Werte laut Nomenklatur im Artikel betragen (die Bildunterschriften wurden für den Artikel angepasst).