Rio Gebhardt

deutscher Dirigent und Komponist

Julius Rigo „Rio“ Gebhardt (* 1. November 1907 in Heilbronn; † 24. Juni 1944) war ein deutscher Pianist, Dirigent und Komponist.

Leben Bearbeiten

Rio Gebhardt wurde als Julius Rigo Gebhardt in der Privatfrauenklinik von Otto Gutbrod in Heilbronn geboren, da seine Eltern, der Sänger Julius Gebhardt und Maria Anna Haupt, zu dieser Zeit mit ihrem Tourneetheater Tegernseer Nachtigallen in den dortigen Kilianshallen gastierten.[1] Das Kind wurde auf weitere Reisen mitgenommen; 1911 entdeckte man angeblich sein Talent zum Dirigieren, als man den Vierjährigen dabei beobachtete, wie er eine Zigeunerkapelle in Monte Carlo mit einem Zitronenlöffel „dirigierte“. Der Vater beschloss daraufhin, seinen Sohn als Wunderkind zu vermarkten, eignete sich selbst Kenntnisse im Dirigieren an und übte mit dem Knaben hinter verschlossenen Türen das Dirigieren zu Grammophonmusik, wobei Weinflaschen als Ersatz für die Instrumentengruppen eines Orchesters benutzt wurden. Die Auftritte des Kindes stießen bei Fachleuten nicht unbedingt auf Begeisterung, doch sein Onkel Karl Gille, Wagner-Dirigent und Hofkapellmeister in Hannover, stellte fest, dass Rio Gebhardt wirklich musikalisches Talent besitzen musste, und sorgte dafür, dass er Klavierunterricht erhielt.[2] Dennoch trat Gebhardt weiterhin als dirigierendes Wunderkind auf, unter anderem in Russland. Für 1915 ist allerdings der – unregelmäßige – Besuch des Sternschen Konservatoriums in Berlin belegt. Von 1918 bis 1920 studierte Rio Gebhardt bei Paul Scheinpflug Harmonielehre und Partiturspiel, ferner besuchte er offenbar Lehrveranstaltungen bei Robert Kahn.[3]

In den 1920er Jahren gehörte er zu einer Gruppe von „Wunderkindern“, an denen die Psychologin Franziska Baumgarten Studien trieb, die später in dem Buch Wunderkinder. Psychologische Untersuchungen von 1930 verwertet wurden. Sie stellte fest: „Er besitzt eine äußerst lebhafte Phantasie, seine Intelligenz scheint nicht überdurchschnittlich zu sein.“[4]

1922 studierte Rio Gebhardt in Zürich und besuchte dort insbesondere die Orchesterproben unter Volkmar Andreae. Zu dieser Zeit war auch sein im englischen Blackpool am 28. Juni 1909 geborener jüngerer Bruder Ferry,[5] der die ersten acht Jahre seines Lebens in einer Pflegefamilie verbracht hatte, zu ihm gestoßen; ein Konzertprogramm führt ihn als Pianisten und Rio Gebhardt als Dirigenten und Komponisten auf.[6] Die Familie hatte sich 1917 in Berlin niedergelassen und Rio und Ferry Gebhardt bestritten in den folgenden Jahren über 500 Konzerte im In- und Ausland. (Der Konzertpianist Ferry Gebhardt, ein Schüler und Assistent von Edwin Fischer, war unter anderem ab 1950 Leiter der Meisterklasse an der Staatlichen Hochschule für Musik in Hamburg.)

Ab 1923 studierte Rio Gebhardt bei Kurt Weill; das Geld zum Leben verdiente er als Pianist in einer Salonkapelle. Zwei Jahre später nahm er Kontakt zu dem Verleger Wilhelm Zimmermann auf, der zu seinem Hauptverleger und -geldgeber werden sollte. Hatte sich Zimmermann ab der Mitte der 20er Jahre dem Jazz zugewandt, wechselte er unter dem Druck der Nationalsozialisten seinen musikalischen Schwerpunkt und konzentrierte sich auf Unterhaltungsmusik für den Rundfunk.

Zu Rio Gebhardts frühen Kompositionen gehörten vier Klavierstücke, ein Concertino für Klavier und Orchester und drei Sehnsuchtslieder nach Ernst Lange für Altstimme mit Orchester.[7] Gebhardt dirigierte 1928 nach Beendigung seines Studiums bei Weill in sämtlichen Vorstellungen außer der Uraufführung dessen Musik zu Leo Lanias Stück Konjunktur, das allerdings nach drei Monaten wieder abgesetzt wurde. Anfang 1929 wurde er Hilfskorrepetitor an der Kölner Oper, im Sommer desselben Jahres kehrte er nach Berlin zurück.

Nachdem das 1927 gegründete ERKLA (Erstes Klavier-Quartett) mit Adam Gelbtrunk, Alexander Zakin und Leopold Mittmann nicht sehr lang existiert hatte, rief Gebhardt 1929 ein Klaviertrio namens Ri-Ro-Ru ins Leben. Neben ihm selbst gehörten Günther Radtke und Hans Rhode dieser Formation an, die vor allem in Lichtspielhäusern und ähnlichen Einrichtungen auftrat. Mit einem etwas ernsthafteren Programm als dem bisherigen Jazz-Potpourri erntete das Trio 1931 auch Anerkennung bei der Berliner Musikpresse. Im selben Jahr versuchte Gebhardt seine Ausbildung durch den Besuch von Lehrveranstaltungen in Musikgeschichte abzurunden und schickte Franziska Baumgarten seine handschriftlichen Lebenserinnerungen, die in dem Aufsatz Der Werdegang eines Wunderkindes publiziert wurden. 1932 kam auch unter Gebhardts Namen eine Jazz-Klavierschule mit dem Titel Die neue Klaviervirtuosität heraus. Sie wurde mehrfach wieder aufgelegt. Der pädagogische Hauptteil stammt indes nicht von Gebhardt, sondern von Alfred Baresel.[8] Mit Baresel hatte Gebhardt 1932 den Blues pathétique und den Fox gymnastique, die auch in dieser Klavierschule veröffentlicht wurden, als Plattenaufnahme eingespielt. Diese Werke wurden von der zeitgenössischen Presse als „üble und flache, mondäne Musik“ bezeichnet.[9]

Besser aufgenommen wurde teilweise das 1932 bei Zimmermann publizierte Concert in Es. Es zitierte Passagen aus George Gershwins Rhapsody in Blue und dem Concerto in F und brachte Gebhardt, jedenfalls in der Darstellung seines Verlegers, den Ruf eines „deutschen Gershwin“ ein. In anderen Werken orientierte sich Gebhardt eher am Stil Billy Mayerls. Das Concert in Es wurde am 17. Februar 1941 mit Rudolf Ehrecke und dem Orchester des Deutschen Fernseh-Rundfunks und dem Komponisten als Dirigenten aufgenommen, nachdem zuvor Produktionen im Rundfunk jahrelang aufgeschoben worden waren.[10]

Während er auf eine Anstellung bei der Mitteldeutschen Rundfunk-AG (Mirag) wartete, konnte Gebhardt seine Operette Das Schloss an der Adria mit einem Libretto von Josef Weiser in Chemnitz zur Uraufführung bringen. Statt bei der Mirag wurde Gebhardt schließlich beim Reichssender in Hamburg angestellt. Seine Werke wurden in den folgenden Jahren häufig im Rundfunk gespielt, etwa das Fest der Infantin von 1934 oder die Ballett-Suite Aus der Spielzeugschachtel von 1937. Die Einflüsse des Jazz verloren sich in diesen Jahren weitgehend aus Gebhardts Kompositionen. 1937 wurde er erster Musikbetreuer beim Deutschen Bildfunk in Berlin; drei Jahre später komponierte er mit Kabinett Fulero die erste Originalmusik für ein deutsches Fernsehspiel. Ausgestrahlt wurde diese Adaption des Stückes Die Krone von Doris Riehmer und Op gen Orth am 31. Oktober 1940. Eine weitere Filmmusik, zu Das tapfere Schneiderlein, schrieb Gebhardt 1941. Wahrscheinlich die letzte Uraufführung eines Gebhardt-Werkes zu Kriegszeiten fand am 23. Oktober 1941 statt. Die Konzert-Ouvertüre wurde verschiedentlich positiv besprochen, brachte ihrem Urheber allerdings keine Unabkömmlichkeitsbescheinigung ein: Rio Gebhardt wurde zum Kriegsdienst eingezogen und kam nach Russland, während seine Frau Ada und seine Kinder in Berlin blieben. Zunächst noch vom Fronteinsatz verschont, konnte Gebhardt noch an einer Mittelalterlichen Suite arbeiten. Seine Hoffnung, zur Propaganda-Kompagnie Münchhausen versetzt zu werden, erfüllte sich jedoch nicht. Gebhardt fiel am 24. Juni 1944 an der Ostfront.[11]

Nachwirkung Bearbeiten

1967 wurde anlässlich des 60. Geburtstags Gebhardts eine Verlagsschrift bei Zimmermann über den Komponisten herausgegeben. Der Autor war möglicherweise Zimmermanns Prokurist Erich Höffner. Als die gehobene Unterhaltungsmusik aus der Mode kam, gerieten auch die Werke Gebhardts weitgehend in Vergessenheit. Zum 50. Todestag erarbeitete Günther Emig 1994 eine große Ausstellung in der Stadtbücherei Heilbronn, in der auch viele unbekannte Dokumente aus Familienbesitz gezeigt werden konnten.[12] Dazu gab Günther Emig ein Begleitheft heraus, in dem das bis dahin bekannte Wissen erstmals im Zusammenhang dargestellt worden ist. Diese Veröffentlichung wurde 2007 neu herausgegeben, sie ist seit Oktober 2014, um eine Diskographie erweitert, auch als E-Book erhältlich. Gebhardts Biographie wurde 2011 im Rahmen der Reihe Heilbronner Köpfe publiziert.[13]

Literatur Bearbeiten

  • Günther Emig: Auf der Durchreise im Varieté geboren. Der Wunderknabe aus Heilbronn. Der Meister-Dirigent Rio Gebhardt. In: Heilbronner Stimme. 6. März 1993, Wochenmagazin, S. 1.
  • Günther Emig: Wunderkinder! Rio Gebhardt (1907-1944) und sein Bruder Ferry (1909-1989). Broschüre zur Ausstellung in der Stadtbücherei Heilbronn 1994. - Neuauflage Niederstetten 2007.
  • Lothar Heinle: „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944). In: Christhard Schrenk (Hrsg.): Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 9
  2. Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hrsg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 11–13
  3. Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hrsg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 14
  4. zitiert nach: Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 14
  5. Gebhardt, Ferry. In: Walter Habel (Hrsg.): Wer ist wer? Das deutsche Who’s who. 24. Ausgabe. Schmidt-Römhild, Lübeck 1985, ISBN 3-7950-2005-0, S. 360.
  6. Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 16
  7. Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 17
  8. Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 21
  9. zitiert nach: Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 21
  10. Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 21 f.
  11. Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 30
  12. Ausstellungsbericht: "Stadtbücherei Heilbronn: "Wunderkinder" Rio Gebhardt und sein Bruder Ferry. Schmucke Herren am Flügel." In: Heilbronner Stimme, 29. Juli 1994, S. 14
  13. Lothar Heinle, „Ein deutscher Gershwin!“ Rio Gebhardt (1907-1944), in: Christhard Schrenk (Hg.), Heilbronner Köpfe VI, Stadtarchiv Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940646-08-8, S. 9–32, hier S. 31 f.