Poetik und Hermeneutik

Tagungen einer renommierten geisteswissenschaftlichen Forschergruppe (1963–1994)

Poetik und Hermeneutik war der Titel einer Reihe von 17 Tagungen einer geisteswissenschaftlichen Forschergruppe, die zwischen 1963 und 1994 stattfanden. Die Vertreter trafen sich, um ästhetische, kunsttheoretische oder geschichtsphilosophische Fragen zu diskutieren.

Durch die veröffentlichten Tagungsbände, die – damals ungewöhnlicherweise – auch den Gesprächsverlauf dokumentierten, wirkte die Forschergruppe stark auf die Themenstellungen der deutschen Geisteswissenschaften ein und trug maßgeblich dazu bei, dass diese mit modernen Methodiken und Konzepten (z. B. den Intertextualitätstheorien) in Berührung kamen. Der Name der Forschergruppe spiegelt das Bemühen wider, strukturalistische, linguistisch fundierte Literaturtheorie (Poetik) und die deutsche hermeneutische Tradition in einen Dialog treten zu lassen. Zu den prominenteren Teilnehmern gehörten die Philosophen Hans Blumenberg, Odo Marquard und Jacob Taubes, die Literaturwissenschaftler Wolfgang Preisendanz, Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser, Karlheinz Stierle, Peter Szondi, Werner Krauss, Renate Lachmann, Manfred Fuhrmann und Karl Heinz Bohrer, der Kunsthistoriker und -theoretiker Max Imdahl und der Historiker und Geschichtstheoretiker Reinhart Koselleck.

Geschichte Bearbeiten

„Poetik und Hermeneutik“ wurde von dem Philosophen Hans Blumenberg, dem Germanisten Clemens Heselhaus und dem Romanisten Hans Robert Jauß zunächst als Lessing-Institut für Hermeneutik und Literaturkritik an der Justus-Liebig-Universität in Gießen gegründet. Die Begriffszusammenführung „Poetik und Hermeneutik“ wurde erst später, vermutlich von Hans Blumenberg, als Name der Forschungsgruppe vorgeschlagen. Zu den drei Gießener Professoren Jauß, Blumenberg und Heselhaus sollte noch ein viertes Gründungsmitglied von einer andern Universität kommen. Man fragte zunächst Jacob Taubes. Dieser lehnte jedoch ab und Wolfgang Iser wurde Gründungsmitglied. Die Gründungsmitglieder wurden gruppenintern als Archonten bezeichnet. Jauß, Heselhaus, Wolfgang Iser und Hans Blumenberg sahen die Aufspaltung der deutschen Universitäten in spezialisierte Fachbereiche als Bedrohung für den interdisziplinären Austausch und wollten dem durch die Schaffung eines Forums gegensteuern, das den verschiedenen Fächern erlaubte, im Gespräch miteinander zu bleiben.[1] Die erste Tagung fand vom 17. bis zum 19. Juni 1963 in Gießen statt. Mitte der sechziger Jahre wurde über eine Eingliederung von „Poetik und Hermeneutik“ an das Bielefelder ZIF nachgedacht und die vierte Tagung fand in den provisorischen Räumen des ZIFs auf Schloss Rheda statt. Mit der Gründung der Reformuniversität Konstanz 1966 und der Berufung prominenter „Poetik-und-Hermeneutik“-Mitglieder an diese verlagerte sich der Schwerpunkt dorthin.

Organisation und Ablauf der Tagungen Bearbeiten

Die Teilnehmer versandten ihre Beiträge („Vorlagen“) im Vorfeld der Treffen. Auf den Tagungen selbst wurde eine Zusammenfassung präsentiert, an die sich die Diskussion anschloss, die in den ersten vier Tagungsbänden mitabgedruckt wurde. Die Arbeit der Forschergruppe wurde unter anderem durch die Werner Reimers Stiftung finanziert.

Kritik Bearbeiten

Wurden die Tagungsbände anfangs noch als grundlegend für das jeweils gestellte Thema und allgemein relevant begrüßt[2] und auch außerhalb des akademischen Bereichs wahrgenommen, so sagte man den Konferenzen der 1980er und 1990er Jahre nach, sie seien mit ihren bemühten Themenstellungen im akademischen Tagungsbetrieb aufgegangen und hätten sich im Ergebnis nicht mehr von jeder beliebigen Fachkonferenz unterschieden. Für die frühe Phase von Poetik und Hermeneutik wurde jedoch die hohe Originalität der Beiträge hervorgehoben. Gerade Hans Blumenbergs Vorlagen wurden als programmatisch für die Treffen angesehen. Zudem sei durch den frühen Austritt Blumenbergs und die nicht-programmatischen Themensetzungen die konzentrierte Arbeit an einer Problemstellung von dem normalen wissenschaftlichen Kolloquiums- und Sammelbandbetrieb abgelöst worden.

Liste der Tagungen und der zugehörigen Tagungsbände Bearbeiten

Die Bände der Reihe „Poetik und Hermeneutik“ sind im Wilhelm Fink Verlag erschienen.

  1. 17.–21. September 1963, Gießen: Nachahmung und Illusion: Kolloquium Giessen, Juni 1963. Vorlagen und Verhandlungen / hrsg. von Hans Robert Jauß (1964)
  2. September 1964, Schloß Auel in Lohmar bei Köln: Immanente Ästhetik, ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne. Kolloquium Köln 1964. Vorlagen und Verhandlungen / hrsg. von Wolfgang Iser (1966) (Online)
  3. 4.–10. September 1966, Lindau im Bodensee: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen / hrsg. von Hans Robert Jauß (1968) (Online)
  4. 9.–13. September 1968, Schloss Rheda (Westfalen): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption / hrsg. von Manfred Fuhrmann (1971) (Online)
  5. 18.–23. Juni 1970: Insel Reichenau: Geschichte – Ereignis und Erzählung / hrsg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel (1973)
  6. 11.–16. September 1972, Bad Homburg: Positionen der Negativität / hrsg. von Harald Weinrich (1975)
  7. 2.–7. September 1974, Bad Homburg: Das Komische / hrsg. von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning (1976) (Online)
  8. 5.–11. September 1976, Bad Homburg: Identität / hrsg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle (1979) (Online)
  9. 25.–27. Mai 1978, Bad Homburg: Text und Applikation / hrsg. von Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß und Wolfhart Pannenberg (1981) (Online)
  10. 3.–8. September 1979: Bad Homburg: Funktionen des Fiktiven / hrsg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser (1983)
  11. 5.–19. Oktober 1981, Bad Homburg: Das Gespräch / hrsg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning (1984) (Online)
  12. 26.–30. September 1983, Bad Homburg: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein / hrsg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck (1987)
  13. 23.–28. September 1985, Bad Homburg: Individualität / hrsg. von Manfred Frank und Anselm Haverkamp (1988) (Online)
  14. 28. September–3. Oktober 1987: Bad Homburg: Das Fest / hrsg. von Walter Haug und Rainer Warning (1989) (Online)
  15. 23.–28. September 1989, Bad Homburg: Memoria. Vergessen und Erinnern / hrsg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann unter Mitwirkung von Reinhart Herzog (1993) (Online)
  16. 21.–26. September 1992, Bad Homburg: Das Ende. Figuren einer Denkform / hrsg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning (1996) (Online)
  17. 19.–24. September 1994, Bad Homburg: Kontingenz / hrsg. von Gerhart von Graevenitz und Odo Marquard in Zusammenarbeit mit Matthias Christen (1998) (Online)

Liste der Teilnehmer nach Fachbereichen Bearbeiten

Anglistik Bearbeiten

Germanistik Bearbeiten

Geschichtswissenschaften Bearbeiten

Klassische Philologie Bearbeiten

Komparatistik Bearbeiten

Kunstgeschichte Bearbeiten

Linguistik Bearbeiten

Musikwissenschaft Bearbeiten

Pädagogik Bearbeiten

Philosophie Bearbeiten

Romanistik Bearbeiten

Slavistik Bearbeiten

Soziologie Bearbeiten

Theologie Bearbeiten

Literatur Bearbeiten

Quellen und Zeugnisse von Zeitzeugen und Teilnehmern

  • Petra Boden, Rüdiger Zill (Hrsg.): Poetik und Hermeneutik im Rückblick. Interviews mit Beteiligten. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017, ISBN 978-3-7705-6115-5.[3]
  • Hans Ulrich Gumbrecht: Moderne Sinnfülle. Vierundzwanzig Jahre „Poetik und Hermeneutik“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. September 1987, S. 35.
  • Wolfgang Iser: Neu starten, Spurenwechsel: Poetik und Hermeneutik, ein Exportprodukt. Wolfgang Iser im Gespräch mit Ellen Spielmann. In: Weimarer Beiträge, Jg. 44 (1998), S. 92–103.
  • Hans Robert Jauß: Epilog auf die Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“. In: Gerhart von Graevenitz, Odo Marquard (Hrsg.), in Zusammenarbeit mit Matthias Christen: Kontingenz. Die Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ (Poetik und Hermeneutik; Bd. 17). Wilhelm Fink, München 1998, S. 525–533, ISBN 3-7705-3263-5.
  • Karlheinz Stierle: Die Gruppe „Poetik und Hermeneutik“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Juli 2009. Geisteswissenschaften S. N3.
  • Renate Lachmann: „Poetics and Hermeneutics (Poetik und Hermeneutik)“, in: Marina Grishakova/Silvi Salupere (Hrsg.): Theoretical Schools and Circles in the Twentieth-Century Humanities. Literary Theory, History, Philosophy. New York/London: Routledge 2015, ISBN 978-1-138-80461-6, S. 216–234.
  • Aleida Assmann: „Die Werner Reimers Stiftung und die Förderung der Geisteswissenschaften Am Beispiel von ‚Poetik und Hermeneutik’ (1963–1994) und ‚Archäologie der literarischen Kommunikation’ (1979- )“, in: Werner Reimers Stiftung (Hrsg.): Reimers Quartett – Vier Themenabende zu Profil und Potential der Stiftung im Frühjahr 2015, S. 16–21, PDF

Schlüsselerzählung

  • Eckhard Henscheid: 10:9 für Stroh, in: ders.: 10:9 für Stroh – Drei Erzählungen. Berlin: Alexander Fest, 1998, S. 7–135 (Schlüsselerzählung über eine Doktorprüfung an der Universität Konstanz mit mehreren Mitgliedern).

Feuilleton

  • Jürgen Kaube: Zentrum der intellektuellen Nachkriegsgeschichte: Die Konferenzserie „Poetik und Hermeneutik“ hat seit 1963 richtig gemacht, was heute alle falsch machen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Juni 2003, S. 46.

Forschung

  • Julia Amslinger: Eine neue Form von Akademie. „Poetik und Hermeneutik“ – die Anfänge. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2017.
  • Christopher Möllmann und Alexander Schmitz: Tagungsbericht Die Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“. Erschließen – Historisieren – Aufgreifen. Ein Arbeitsgespräch. 29./30. November 2008, Konstanz/Kreuzlingen CH. In H-Soz-u-Kult vom 16. April 2009.
  • Themenheft von Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 35 (2010), Hefte 1 und 2, ISSN 0340-4528.
    • Christopher Möllmann und Alexander Schmitz: "Es war einmal..." - Einige Distanz wahrende Annäherungen an die Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik". In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Jg. 35 (2010), Heft 1, S. 46–52.
    • Julia Wagner (jetzt: Amslinger): Anfangen. Zur Konstitutionsphase der Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik". In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 35 (2010), Heft 1, S. 53–76, ISSN 0340-4528.
    • Walter Erhart: "Wahrscheinlich haben wir beide recht". Diskussion und Dissens unter "Laboratoriumsbedingungen". Beobachtungen zu "Poetik und Hermeneutik" 1963–1966. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 35 (2010), Heft 1, S. 77–103.
    • Petra Boden: Arbeit an Begriffen. Zur Geschichte von Kontroversen in der Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik". Ein Forschungsprojekt. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 35 (2010), Heft 1, S. 103–121.
    • Carlos Spoerhase: Rezeption und Resonanz. Zur Faszinationsgeschichte der Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik". In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 35 (2010), Heft 1, S. 122–142.
    • Peter Weingart: "Poetik und Hermeneutik" als Gegenstand der Wissenschaftsreflexion? In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 35 (2010), Heft 2, S. 136–139.
    • Holger Dainat: Faszination, Erkenntnis, Funktion. Zur Erforschung von "Poetik und Hermeneutik" im Kontext germanistischer Fachgeschichte. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 35, Heft 2, S. 140–149.
    • Rudolf Behrens: Kurze (auch romanistisch motivierte) Bemerkungen zur Aufarbeitung der Gründungsgeschichte von "Poetik und Hermeneutik". In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 35 (2010), Heft 2, S. 150–157.
  • Oliver Müller: Subtile Stiche. Hans Blumenberg und die Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“. In: Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase (Hrsg.): Kontroversen in der Literaturtheorie / Literaturtheorie in der Kontroverse. Peter Lang, Bern 2007, S. 249–264.
  • Petra Boden: Vom Umgang mit Dissens und Kontroversen. Ein Forschungsbericht über das Projekt Arbeit an Begriffen. Zur Geschichte von Kontroversen in der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ (1966–1984). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 38 (2013), Heft 2, S. 281–314.

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Steffen Martus: Wer Vergils vierte Ekloge kennt, ist willkommen. Ein Band mit Interviews spürt der legendären Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ nach. In: Süddeutsche Zeitung vom 25. April 2017, S. 14.
  2. vgl. z. B. Karl Aschenbrenner: Rezension von Nachahmung und Illusion. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism. 24, 3, 1966, S. 450: „Although die audience addressed is unavoidably limited, several of the papers are of general interest for aesthetics.“Liliane Welch: Rezension von Die nicht mehr schönen Künste: Grenzphänomene des Ästhetischen. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism. 28, 4, 1970, S. 548: „Since art has lost the status of an absolute, Hegel saw the ever increasing necessity for art criticism to emerge as a serious enterpise, an enterprise which would not so much try to resuscitate art as to ‚understand‘ it in a reflective and systematic way. The members of the Poetik und Hermeneutik III group have attempted just this.“ – Hans H. Rudnick: Rezension von Terror und Spiel: Probleme der Mythenrezeption. In: The German Quarterly. 48, 3, 1975, S. 403–405: „The book provides the reader with an excellent example for the seriousness and validity of ‚Literaturwissenschaft‘. It has charted a new direction in myth research.“.
  3. s. hierzu: Jan Knobloch: Es konnte einen fast so etwas wie Examensgefühl befallen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 283, 6. Dezember 2017. Literatur und Sachbuch, S. 12.