Otto Mauthe

deutscher Gynäkologe und Beteiligter an der Aktion T4

Otto Mauthe (* 9. November 1892 in Derdingen; † 22. Mai 1974 in Stuttgart) war ein deutscher Gynäkologe[1]:S. 201 und Beamter. Als Obermedizinalrat im Württembergischen Innenministerium während der Zeit des Nationalsozialismus war er in verantwortlicher Position[2] an den Krankenmorden („Aktion T4“) und der systematischen Ermordung von Sinti und Roma beteiligt. Mauthe hat Anordnungen im Rahmen der NS-Krankenmorde bearbeitet oder auch selbst getroffen und war maßgeblich für die Erfassung und Verlegung von Geisteskranken und Kindern verantwortlich.[3]:S. 103

Leben und Wirken Bearbeiten

Otto Mauthe wurde in Derdingen (heute Oberderdingen) als Sohn eines Forstmeisters geboren.[4]:S. 65 Er studierte von 1911 bis 1920 Medizin in Tübingen und Kiel.[5] Zunächst war er Amtsarzt in Herrenberg. 1934 trat er der NSDAP bei.[2]

Mauthe war Obermedizinalrat im Württembergischen Innenministerium und seit 1936 „Berichterstatter für das Irrenwesen sowie Ehe- und Erbgesundheitsfragen“.[4]:S. 60 Er war Stellvertreter von Ministerialrat Eugen Stähle im Geschäftsteil X Medizinalabteilung[6]:S. 12 und diesem unmittelbar unterstellt.[4]:S. 65 Die „Euthanasie“-Aktion lag direkt in seinem Zuständigkeitsbereich, er war „in großem Umfang an ihrer Organisation und Durchführung […] beteiligt“.[4]:S. 65

Mauthe und Karl Mailänder, der Leiter der Württembergischen Landesfürsorgebehörde, begutachteten gemeinsam mit einem badischen Beamten am 24. Mai 1939 die Tötungsanstalt Grafeneck.[7][8]:S. 18 Grafeneck wurde später zur Durchführung der „Euthanasie“-Morde beschlagnahmt. Am 7. März 1940 „begaffte“ Mauthe zusammen mit Stähle und anderen in der Tötungsanstalt Grafeneck die Vergasung einer Gruppe weiblicher Opfer.[2][9]

Nachdem mehrere konfessionelle und privat geführte Anstalten zunächst das Ausfüllen von Meldebögen verweigerten,[6]:S. 75 f. [10] die den T4-Gutachtern der Zentraldienststelle T4 zur „Auswahl der zu tötenden“ (Werner Kirchert)[11] dienten, setzten sich Mauthe und der Landesjugendarzt Max Eyrich vor Ort mit besonderer Hartnäckigkeit ein,[6] füllten Meldebögen teilweise eigenhändig aus[3]:S. 103 [6]:S. 76 f. und unternahmen „regelrechte Patientenselektionen“.[4]:S. 65

„In der Liste der Staatspfleglinge habe ich alle diejenigen mit blauem Winkel bezeichnet, die nicht, oder ganz wenig arbeiten, meist schon länger in der Anstalt sind und nicht aus der Umgebung […] stammen“

Otto Mauthe am 19. März 1940[12]

In Zusammenarbeit mit dem Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden errichteten Stähle und Mauthe auch eine – euphemistisch benannte – „Kinderfachabteilung[1]:S. 52 bei den Städtischen Kinderheimen und Kinderkrankenhäusern in Stuttgart.[13] Dort wurden unter der Leitung von Karl Lempp[14] Kinder und Neugeborene ermordet („Kinder-Euthanasie“).[3]:S. 114

Nachkriegszeit und Grafeneck-Prozess Bearbeiten

Im sogenannten Grafeneck-Prozess, der am 8. Juni 1949 auf Schloss Hohentübingen begann, wurde Mauthe wegen Beteiligung an der Ermordung von 10.654 „Geisteskranken“ im Zuge der „Euthanasie“-Aktion angeklagt.[15] Mit ihm vor Gericht standen Max Eyrich, Alfons Stegmann, Martha Fauser sowie zwei Kriminalbeamte und zwei ehemalige Pfleger. Alle anderen Beteiligten waren unauffindbar. Die Angeklagten außer Fauser wurden nicht der Täterschaft, sondern nur der Beihilfe angeklagt.[3]:S. 102

Mauthe behauptete in der Verhandlung, er habe die „Euthanasie“ entschieden abgelehnt und zu sabotieren versucht und belastete hauptsächlich den vor Prozessbeginn verstorbenen Stähle.[3]:S. 105

Am 5. Juli 1949 verurteilte das Schwurgericht Tübingen Mauthe wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form der Beihilfe zu einer fünfjährigen Haftstrafe. Das Gericht folgte dabei „in zahlreichen Fällen den Perspektiven der beschuldigten Täter.“[3]:S. 79 Keinem der Angeklagten wurden die bürgerlichen Ehrenrechte abgesprochen.[3]:S. 115 In der Urteilsbegründung hieß es, Mauthe sei insbesondere für den sogenannten Sperrerlass vom 9. September 1940 verantwortlich gewesen, „der die Entlassung von Kranken aus den Heilanstalten nur nach Genehmigung des Innenministeriums gestattete“; entsprechende Entlassungsanträge habe er abgelehnt. Das Gericht stellte überdies fest, Mauthe habe Angehörige, die um Auskunft über in Grafeneck Ermordete baten, arglistig getäuscht sowie die Verlegung einiger Kinder in „Kinderfachabteilungen“ angewiesen.[3]:S. 106

Mauthe und Stegmann gingen 1950 gegen das Urteil in Berufung, ebenso wie die Staatsanwaltschaft, die härtere Strafen nach dem neuen deutschen Strafgesetz forderte.[3]:S. 116 Die Berufung vor dem Oberlandesgericht Tübingen wurde jedoch abgelehnt.[16][17]

Otto Mauthe trat die Haftstrafe nie an;[2] aus „gesundheitlichen Gründen“ sah die Justiz 1958 endgültig von einer weiteren Strafverfolgung ab.[4]:S. 66 Er starb am 22. Mai 1974 in Stuttgart.

Schriften (Auswahl) Bearbeiten

  • Otto Mauthe: Beitrag zur Gesichtslage aus der Universitätsfrauenklinik Tübingen. (= Dissertation, Universität Tübingen, 1920). Tübingen 1920, OCLC 313991679.
  • Familien in Neuenstadt am Kocher 1558–1860. Stuttgart-Degerloch 1959, OCLC 866786376.

Literatur Bearbeiten

  • Verena Christ: Täter von Grafeneck. Vier Ärzte als Angeklagte im Tübinger „Euthanasie“-Prozess 1949 (Contubernium, Bd. 88). Franz Steiner, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-515-12516-1, insbes. S. 138–188.
  • Thomas Stöckle: Eugen Stähle und Otto Mauthe: der Massenmord in Grafeneck und die Beamten des Innenministeriums. In: Hermann Abmayr (Hrsg.): Stuttgarter NS-Täter. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-89657-136-6, S. 58–67.
  • LG Tübingen, 5. Juli 1949. In: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. V, bearbeitet von Adelheid L. Rüter-Ehlermann, C. F. Rüter. University Press, Amsterdam 1970, Nr. 155, S. 87–123 Grafeneck-Prozess

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b Henry Friedlander: The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution. The University of North Carolina Press, Chapel Hill 1995, ISBN 0-8078-2208-6.
  2. a b c d Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945? 3. Auflage. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 2011, ISBN 978-3-596-16048-8, Eintrag: Mauthe, Otto.
  3. a b c d e f g h i Stefanie Westermann, Richard Kühl, Tim Ohnhäuser (Hrsg.): NS-„Euthanasie“ und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung – Gedenkformen – Betroffenenperspektiven. Medizin und Nationalsozialismus 3. Lit Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-643-10608-7.
  4. a b c d e f Thomas Stöckle: Eugen Stähle und Otto Mauthe.
  5. Otto Mauthe in der Deutschen Digitalen Bibliothek
  6. a b c d Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland. Silberburg-Verlag, Tübingen 2002, ISBN 3-87407-507-9.
  7. Thomas Stöckle: Die historische Bedeutung des Innenministeriums für die Durchführung der „Euthanasie“-Morde in Württemberg, bzw. Baden. (Digitalisat)
  8. Hermann Pretsch (Hrsg.): Euthanasie. Krankenmorde in Südwestdeutschland. Die nationalsozialistische ‚Aktion T4‘ in Württemberg 1940 bis 1945. Verlag Psychiatrie und Geschichte der Münsterklinik, Zwiefalten 1996, ISBN 3-931200-01-9.
  9. Ernst Klee: „Euthanasie“ im Dritten Reich: Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Fischer, Frankfurt 2010, ISBN 978-3-596-18674-7, S. 141.
  10. Thomas Stöckle: Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in den Jahren 1940/41 und die Heilanstalt Christophsbad in Göppingen. (Digitalisat)
  11. Bundesarchiv – Außenstelle Ludwigsburg, Ordner „Euthanasie“. Zitiert nach: Thomas Stöckle: Grafeneck 1940. S. 53 f.
  12. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 151/53 Bü 626.
  13. Lutz Kaelber: Stuttgart (Städtische Kinderkrankenhäuser und Kinderheime Stuttgart). Auf: uvm.edu
  14. Karl-Horst Marquart: Karl Lempp. Verantwortlich für Zwangssterilisierungen und „Kindereuthanasie“. In: Hermann Abmayr (Hrsg.): Stuttgarter NS-Täter. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-89657-136-6, S. 100–107.
  15. „Grafeneckprozess“ zur „Euthanasie“ digitalisiert. Staatsarchiv Sigmaringen.
  16. Urteil des OLG Tübingen vom 14. März 1950, Staatsarchiv Sigmaringen, Wü 29/3, Nr. 1752.
  17. Jörg Kinzig: Der Grafeneck-Prozess vor dem Landgericht Tübingen – Anmerkungen aus strafrechtlicher Sicht. Beitrag zum 51. bundesweiten Gedenkstättenseminar, Juni 2009, Bad Urach. (Digitalisat)