Flüssige Demokratie

eine Form der gemeinsamen Entscheidungsfindung
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Flüssige Demokratie (Engl. liquid democracy oder delegated voting) ist eine Form der gemeinsamen Entscheidungsfindung im Rahmen eines direktdemokratischen Systems, das um repräsentative Elemente ergänzt wurde.[1]

Illustration der Flüssigen Demokratie: Abstimmende links von der blauen Linie haben ihre Stimme delegiert. Die Abstimmenden rechts von der Linie haben direkt abgestimmt. Die Zahlen geben die Anzahl der Abstimmenden an, die von jedem Delegierten vertreten werden (einschließlich des Delegierten selbst)

Das Konzept ermöglicht es jedem Beteiligten an einer Wahl oder Abstimmung, entweder seine Stimme persönlich abzugeben (Element der direkten Demokratie) oder seine Stimme von jemand anderem abgeben zu lassen (ähnlich der repräsentativen Demokratie). Der so Bevollmächtigte kann – je nach Einsatzgebiet – auch eine Gruppierung, z. B. eine politische Partei, sein. Im Gegensatz zur klassischen Stimmübertragung bei der repräsentativen Demokratie können sich Vollmachten zur Stimmabgabe sowohl auf einzelne Entscheidungen als auch auf umfassende Politikfelder erstrecken und sind widerrufbar.[2][3] Viele Anhänger der Flüssigen Demokratie hoffen, dass die Stimmen sich in einem evolutionären Prozess bei kompetenten Personen häufen.[4]

Jemand, der (jederzeit widerruflich) bevollmächtigt wurde, für einen anderen abzustimmen, kann seinerseits jemand anderen bevollmächtigen, für sich und seine Vollmachtsgeber abzustimmen, d. h. die Stimmübertragung ist transitiv.[5]

Flüssige Demokratie Bearbeiten

Der Einsatz der Flüssigen Demokratie für themenbezogene Entscheidungen in der Politik und in Unternehmen[6] wird oftmals unter dem englischen Schlagwort Liquid Democracy subsumiert. Hierbei gibt es unterschiedliche Vorstellungen davon, wie genau die übertragbare Stimmendelegation zu erfolgen hat. So fordert beispielsweise die Piratenpartei Berlin für parteiinterne Entscheidungen einen über die Flüssige Demokratie hinausgehenden moderationsfreien Diskurs.[7] Eine einheitliche Verwendung des Begriffes Liquid Democracy ist allerdings nicht erkennbar; allen Definitionen gemein ist jedoch der themenbezogene Einsatz der Flüssige Demokratie zur Entscheidungsfindung.[8]

Einsatz in der Politik Bearbeiten

Jan Huwald, politischer Geschäftsführer der Piratenpartei Deutschland im Jahre 2007, stellte die Liquid Democracy als Alternative zu bestehenden Parlamenten dar. So könne ein Wähler selbst bestimmen, ob er/sie sich mit einer politischen Frage selbst beschäftigt oder eine Partei dafür bestimmt.[9] Vor einem Einsatz als gesellschaftliches System wolle man jedoch zunächst selbst damit experimentieren.[9] Dementsprechend wurde die Stimmendelegation in verschiedenen Landesverbänden zur innerparteilichen Meinungsbildung eingesetzt.[7][10]

Von November 2012[11] bis Mitte 2015 setzte der Landkreis Friesland die Bürgerbeteiligungsplattform LiquidFriesland ein, die nach den Prinzipien der Flüssigen Demokratie arbeitete.[12] Die Bürger hatten sich der Plattform allerdings von Anfang an verweigert. Im Februar 2015 startete der Landkreis Rotenburg (Wümme) die Bürgerplattform ROW nach dem Vorbild von LiquidFriesland.[13] Auch hier wird das System nicht angenommen. Der neueste Beitrag ist bereits ein Jahr alt.

Superdelegierte Bearbeiten

Insbesondere durch die Verkettung von Stimmvollmachten, jedoch auch bei unverketteter Vollmachtserteilung,[14] können Personen u. U. ein sehr großes Stimmgewicht auf sich vereinen. Solche Personen wurden im Umfeld der Piratenpartei Deutschland auch als „Superdelegierte“ bezeichnet.[14]

Die sich aus solchen Stimmübertragungen ergebende (theoretisch nutzbare) Macht ist jedoch beschränkt, da Stimmvollmachten bei Flüssiger Demokratie jederzeit widerrufbar sind. So äußerte sich Klaus Peukert, damaliger IT-Chef der Piratenpartei Deutschland, im Jahre 2012, dass seine 79 Stimmen als Superdelegierter „über Nacht weg sein“ könnten, wenn er abwegige Positionen vertrete.[15] Übereinstimmend zeigte auch eine Studie am Fallbeispiel der Piratenpartei Deutschland, dass Superdelegierte ihre Stimmvollmachten überwiegend im Sinne der anderen Teilnehmer einsetzten.[16]

Verwendung von Computern Bearbeiten

Erst die Verwendung von Computertechnologie, insbesondere die breite Verfügbarkeit des Internets, machen den Einsatz des Flüssigen Demokratie praktikabel.[17][18] Der Einsatz von Online-Verfahren führt jedoch im Falle politischer Abstimmungen (siehe auch: E-Demokratie) zu verschiedenen Herausforderungen bzw. Einschränkungen.

Wahlrechtsgrundsätze Bearbeiten

Jegliches System der computerbasierten Abstimmung ist hinsichtlich der Verfahrensabläufe anfällig für Manipulationen.[19] Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zu Wahlautomaten festgestellt, dass es zurzeit technisch nicht möglich sei, digital Wahlen durchzuführen, die sowohl dem Gebot geheimer Wahlen als auch dem Gebot der Nachvollziehbarkeit des Wahlvorgangs hinreichend entsprechen. Es hat den Einsatz von Wahlautomaten bei der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt.[20] Geheime Wahlen sind in Deutschland auch innerhalb von Parteien für bestimmte Personenwahlen vorgesehen.[21] Einen möglichen Ausweg für die Anwendung der Flüssigen Demokratie mittels computerbasierter Systeme stellt die Veröffentlichung der Abstimmungsdaten im Sinne einer offenen Abstimmung dar. So werden offene Abstimmungen auch von den beiden Softwareprodukten Adhocracy[22] und LiquidFeedback[23] umgesetzt. Da geheime Personenwahlen (z. B. Wahlen eines Parteivorstands) prinzipbedingt nicht offen erfolgen können, müssten diese weiterhin z. B. auf einem Parteitag mittels geheimer Wahl durchgeführt werden.

Siehe auch: Datenschutzdebatte um LiquidFeedback

Digitale Spaltung Bearbeiten

Kritische Stimmen befürchten, dass, wenn nicht nur die Entscheidungsfindung, sondern auch der entscheidungsbegleitende Diskurs größtenteils online vermittelt ablaufe, sich die Benachteiligung jener Gruppen, die von digitaler Spaltung besonders betroffen seien, potenziere.[24]

Befürworter der Flüssigen Demokratie argumentieren, dass infolge der zunehmenden Verbreitung elektronischer Kommunikationsmittel durch Flüssige Demokratie schnell ermittelt werden könne, welche politischen Vorhaben in der Bevölkerung eines Gebiets sowie in Parteien und anderen Organisationen mehrheitsfähig seien. Durch die fortschreitende Verbreitung von Internetanschlüssen in Deutschland und auch deren aktive Nutzung (Stand 2013: 77,2 Prozent)[25] halten Befürworter von Liquid Democracy die digitale Spaltung zwar für ein beachtenswertes, aber in immer größerem Umfang vernachlässigbares Problem. Hinzu tritt das Argument, dass auch Offline-Wahlen nicht ohne Hürden seien.

Siehe auch Bearbeiten

Literatur Bearbeiten

  • Jan Behrens, Axel Kistner, Andreas Nitsche, Björn Swieczek: The Principles of LiquidFeedback. Interaktive Demokratie e.V., Berlin 2014, ISBN 978-3-00-044795-2 (liquidfeedback.org).
  • Bernd Guggenberger: „Verflüssigung“ der Politik – was dann? – Essay. Aus Politik und Zeitgeschichte, 10. September 2012 (online).
  • Anna von Notz: Liquid democracy: Internet-basierte Stimmendelegationen in der innerparteilichen Willensbildung. Dissertation, 2018 (= Beiträge zum Organisationsverfassungsrecht. Nr. 4). Mohr Siebeck, Tübingen 2020, ISBN 978-3-16-157699-7 (d-nb.info [abgerufen am 13. November 2021]).
  • Alois Paulin: Through Liquid Democracy to Sustainable Non-Bureaucratic Government. Journal of e-Democracy, Vol. 6 (2014), Iss. 2 (online).
  • Angel Tchorbadjiiski: Liquid Democracy, Diplomarbeit zur datenschutzsicheren technischen Umsetzung von Delegated Voting inklusive Nachverfolgbarkeit der eigenen Stimme (an der Rheinisch-Westfälische Technische (RWTH) Hochschule Aachen, Informatik 4 ComSys), Preisträger des FIfF-Studienpreises 2012
  • Laszlo Trankovits: Eine Verteidigung der Demokratie – gegen den maßlosen Bürger – Essay. Aus Politik und Zeitgeschichte, 10. September 2012 (online).
  • Frieder Vogelmann: Flüssige Betriebssysteme. Liquid democracy als demokratische Machttechnologie. Aus Politik und Zeitgeschichte, 22. November 2012 (online).
  • Andreas Voßkuhle: Über die Demokratie in Europa. Aus Politik und Zeitgeschichte, 23. März 2012 (online).

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Sebastian Jabbusch: Die Idee von Liquid Democracy heute (Memento vom 2. April 2015 im Internet Archive) (PDF; 422 kB). April 2011
  2. Daniel Roleff: Digitale Politik und Partizipation: Möglichkeiten und Grenzen. Abschnitt Digital entert Politik. Aus Politik und Zeitgeschichte. 6. Februar 2012
  3. A. Paulin: Research Agenda towards Structured and Sustainable Non-Bureaucratic Government, Vienna University of Technology - Faculty of Informatics, 2015. Abgerufen am 28. Januar 2016.
  4. Peter Mühlbauer: Entscheidungsfindung via Software. Heise online. 7. Januar 2010
  5. Paolo Boldi, Francesco Bonchi, Carlos Castillo, Sebastiano Vigna: Viscous Democracy for Social Networks. In: Communications of the ACM. Volume 54, Nr. 6. The Association for Computing Machinery, New York Juni 2011, S. 129–137, doi:10.1145/1953122.1953154.
  6. Frankfurter Rundschau: Software stellt Firmen-Führung auf den Kopf (Memento vom 18. Dezember 2014 im Internet Archive). Artikel vom 17. Dezember 2014, abgerufen am 21. Dezember 2016.
  7. a b Satzung der Piratenpartei Berlin, § 11 Liquid Democracy, abgerufen am 21. Januar 2016.
  8. Jelena Gregorius: Does the Digital Age Require New Models of Democracy? – Lasswell’s Policy Scientist of Democracy vs. Liquid Democracy. Abgerufen am 21. Januar 2016.
  9. a b Interview mit Jan Huwald zu den Plänen der Piratenpartei bei Telepolis
  10. Geschäftsordnung ständige Mitgliederversammlung, § 2 Versammlung, als Anhang zur Satzung der Piratenpartei Sachsen, abgerufen am 22. Januar 2016.
  11. Bürgerbeteiligung: Landkreis Friesland führt Liquid Feedback ein. Zeit Online, 9. November 2012, abgerufen am 7. Februar 2013.
  12. YouTube: LiquidFriesland/LiquidFeedback 2.0 – Eine Einführung. 14. Oktober 2014, abgerufen am 30. Januar 2016. Verlinkt auf LiquidFriesland – Informationen zur Plattform. Abgerufen am 30. Januar 2016.
  13. „Bürgerplattform ROW“ geht in den kommenden Wochen an den Start – Digitale Demokratie im Rotenburger Kreishaus. Kreiszeitung. 19. Februar 2015. Abgerufen am 12. Dezember 2015
  14. a b Niels Lohmann: Über Superdelegierte. 10. Dezember 2012, abgerufen am 16. Februar 2016.
  15. Detlef Borchers: Piratenpartei setzt Liquid Feedback 2.0 ein. In: heise online. Heise Medien GmbH & Co. KG, 13. August 2012, abgerufen am 16. Februar 2016.
  16. Christoph Carl Kling, Jerome Kunegis, Heinrich Hartmann, Markus Strohmaier, Steffen Staab: Voting Behaviour and Power in Online Democracy: A Study of LiquidFeedback in Germany’s Pirate Party. 26. März 2015, arxiv:1503.07723v1.
  17. Jan Behrens, Axel Kistner, Andreas Nitsche, Björn Swieczek: The Principles of LiquidFeedback. 1. Auflage. Interaktive Demokratie e.V., Berlin 2014, ISBN 978-3-00-044795-2, S. 15, 145 (liquidfeedback.org).
  18. Bernd Guggenberger: „Verflüssigung“ der Politik – was dann? – Essay. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Bundeszentrale für politische Bildung, 10. September 2012, abgerufen am 13. Februar 2016.
  19. Constanze Kurz, Frank Rieger, Rop Gonggrijp: Beschreibung und Auswertung der Untersuchungen an NEDAP-Wahlcomputern, 30. Mai 2007, abgerufen am 24. Januar 2016.
  20. BVerfGE 123, 39 – Wahlcomputer
  21. Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz), § 15 Willensbildung in den Organen
  22. Mela Eckenfels: Vier Liquid-Democracy-Tools im Test, Linux-Magazin 01/2012, abgerufen am 24. Januar 2016. „Jede Abstimmung und jeder Beitrag ist in Adhocracy immer einsehbar […].“
  23. Webseite liquidfeedback.org, abgerufen am 24. Januar 2016. “Decisions are made by recorded vote only, and all voting-relevant data in LiquidFeedback is made available to all participants in both human- and machine-readable form.”
  24. Leonhard Dobusch, Yussi Pick: Alles fließt. Liquid Democracy in Theorie und Praxis (PDF; 205 kB). 2012, S. 10f.
  25. ARD/ZDF: Mobile Internetnutzung steigt rasant – Boom bei Endgeräten führt zu hohem Anstieg der täglichen Nutzungsdauer. Online-Studie, 2013.