Lindenmayer-System

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Bei den Lindenmayer- oder L-Systemen handelt es sich um einen mathematischen Formalismus, der 1968 von dem ungarischen theoretischen Biologen Aristid Lindenmayer als Grundlage einer axiomatischen Theorie biologischer Entwicklung vorgeschlagen wurde. In jüngerer Zeit fanden L-Systeme Anwendung in der Computergrafik bei der Erzeugung von Fraktalen und in der realitätsnahen Modellierung von Pflanzen.

Künstliche Pflanzen, die durch 3D-L-Systeme generiert wurden

Das wesentliche Prinzip von L-Systemen besteht in der sukzessiven Ersetzung von Einzelteilen eines einfachen Objektes mittels sogenannter Produktionsregeln. Diese Ersetzungen können rekursiv durchgeführt werden. Damit gehören L-Systeme zu den sogenannten Ersetzungssystemen.

Die bekanntesten Ersetzungssysteme sind solche, die auf Zeichenketten basieren. Besonders Noam Chomskys Arbeiten aus den 1950ern über formale Grammatiken stießen auf großes Interesse und befruchteten die Forschung in der theoretischen Informatik. Im Gegensatz zu den sequentiellen Ersetzungsregeln in Chomskys Grammatiken finden Ersetzungen in L-Systemen parallel statt, analog zu den gleichzeitig stattfindenden Zellteilungen in mehrzelligen Organismen, die der Anstoß zur Entwicklung der L-Systeme waren.

L-Systeme sind hervorragend geeignet, Darstellungen von Fraktalen zu erzeugen. Dazu werden die in den Rekursionen des L-Systems erzeugten Zeichenketten in direkt ausführbare Befehle eines Systems, welches die Turtle-Grafik realisiert, umgesetzt, z. B. die Programmiersprache Logo.

Struktur eines L-Systems Bearbeiten

Ein L-System ist ein Quadrupel  , wobei

  • V die Zeichen enthält, die als Variable angesehen werden sollen.
  • S die Zeichen enthält, die als Konstanten angesehen werden sollen. Die Zeichen aus V und S bilden das Alphabet des L-Systems.
  • ω ein Wort über dem Alphabet ist, welches als Startwort oder Axiom des L-Systems bezeichnet wird.
  • P eine Menge von geordneten Paaren aus Wörtern über dem Alphabet ist, welche Ersetzungsregeln definieren. Ist das erste Wort eines jeden Paares ein einzelner Buchstabe aus V, und zu jeder Variablen eine Ersetzungsregel bekannt, so spricht man von einem kontextfreien L-System, sonst von einem kontextsensitiven.

Kontextfreie L-Systeme Bearbeiten

Um ein L-System zu erzeugen, wird eine Tiefe n festgelegt, d. h., es werden Ersetzungsschritte wiederholt. In jedem Ersetzungsschritt wird das aktuelle Wort ω Zeichen für Zeichen abgearbeitet und jedes Zeichen durch das neue, in den Ersetzungsregeln festgelegte Wort ersetzt. Hierbei ist zu beachten, dass Zeichen, für die keine Ersetzungsregel definiert ist, nicht ersetzt werden.

Kontextfreie L-Systeme (auch 0L-Systeme genannt) enthalten Produktionen p, die auf ein Anfangswort ω (auch Axiom genannt) n-mal angewandt werden. Die Produktionen ordnen dabei maximal einem Zeichen ohne Beachtung des Kontextes ein Wort zu. Wird für ein Zeichen keine Regel angegeben, wird im Allgemeinen die Identität als triviale Ersetzung des Zeichens durch sich selbst angenommen.

Beispiel für Systeme ohne Speicher Bearbeiten

 
Kochsche Schneeflocke
 
Drachenkurve

Viele der bekannteren Fraktale, wie das Sierpinski-Dreieck oder die Koch-Kurve, können mittels L-Systemen über dem Alphabet   dargestellt werden. Es gibt nur eine einzige Ersetzungsregel für das Symbol  . Im Artikel Fraktal sind einige Beispiele aufgelistet. So hat das Kochsche Schneeflockenfraktal das Startwort   und die Ersetzungsregel  .

Zur Interpretation eines solchen L-Systems mittels Turtle-Grafik benötigt man einen Stauchungsfaktor   und einen Winkel  . Mittels des Stauchungsfaktors wird die Weglänge bei Rekursionstiefe   als   bestimmt. Die Schildkröte besitzt keinen Speicher und führt die Symbole des Alphabets als folgende Kommandos sofort aus

  •   : Bewegung nach vorn um Länge   und Zeichnung
  •   : Drehung nach links, gegen Uhrzeigersinn, um den Winkel  
  •   : Drehung nach rechts, im Uhrzeigersinn, um den Winkel  

Der Winkel   und der Faktor   sollten so abgestimmt sein, dass   mit Streckenlänge   und das Ersetzungswort von   zur Streckenlänge   bei gleichem Ausgangspunkt ebenfalls einen gemeinsamen Endpunkt haben.

Einige Fraktale wie die Drachenkurve benötigen zwei Ersetzungsregeln, als variablen Teil des Alphabets wählt man z. B.   und legt für dieses Beispiel   und   fest. Beide Symbole werden in der Darstellung wie   behandelt, d. h. als zeichnenden Schritt nach vorn.

Man kann diese Art der Hinzunahme von Ersetzungsregeln beliebig steigern, oder auch weitere Symbole mit anderen Aktionen definieren:

  •   : Bewegung nach vorn um Länge   ohne Zeichnung, variables Symbol,
  •   : Drehung um 180 Grad, konstantes Symbol

Beispiel für Systeme mit Speicher Bearbeiten

Es wird ein LIFO-Stack für Koordinatensysteme eingeführt. Jede Koordinatentransformation besteht aus einer Drehung, die durch einen Winkel parametrisiert werden kann, und einer Verschiebung. Das Alphabet wird um die konstanten Symbole [ und ] erweitert, welche folgende Bedeutung haben:

  • [ : Lege das aktuelle Koordinatensystem auf dem Stack ab
  • ] : Stelle das oberste Koordinatensystem des Stacks als aktuelles wieder her.

Innerhalb eines Klammerpaars kann also ein im Leeren endender Zweig gezeichnet werden. Diese Möglichkeit wurde zur Darstellung fraktaler Bäume eingeführt.

Kontextsensitive L-Systeme Bearbeiten

Im Unterschied zu kontextfreien L-Systemen werden bei den Produktionen auch die Zeichen oder Zeichenfolgen vor oder nach dem zu ersetzenden Zeichen betrachtet. Dabei werden die Kontextbedingungen üblicherweise so notiert, dass der linke Kontext durch < vom zu ersetzenden Zeichen abgetrennt wird, und der rechte Kontext entsprechend durch >.

Beispiel: Zeichensatz = { a, b }; Produktionen = { b < a → b, b > b → a }; ω = {baaa} (ist also links von a ein b, wird das a durch b ersetzt. Analog wird ein b zu a, wenn rechts davon ein b steht.)

n=0 → baaa
n=1 → bbaa
n=2 → abba
etc.

Parametrische L-Systeme Bearbeiten

Im Rahmen der parametrischen L-Systeme werden zusätzlich zu einzelnen Zeichen auch den Zeichen zugeordnete Ziffern betrachtet. Diese Parameter lassen sich nicht nur explizit in den Produktionsregeln verändern, sondern man kann auch konditionale Produktionen erstellen, die nur greifen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, ähnlich den kontextsensitiven L-Systemen. Beispiel: Sei   ein Ast der Länge  . Die Produktionen   und   lassen den Ast nun wachsen und ab einer bestimmten Länge (l=10) neue Äste entstehen.

Pseudocode Bearbeiten

Sei  . Dann beschreibt folgender Pseudocode das Vorgehen des L-Systems.

1. Setze aktuelle Zeichenkette auf  
2. Wiederhole unendlich oft:
2.1 Gib aktuelle Zeichenkette aus
2.2 Setze neue Zeichenkette auf  
2.3 Wiederhole für jedes Zeichen   in der aktuellen Zeichenkette von links nach rechts:
- Wenn möglich, wähle eine Regel  , deren linke Seite   matcht.
- Wenn ein solches   existiert, dann hänge die rechte Seite von   ans Ende der neuen Zeichenkette an.
- Wenn ein solches   nicht existiert, dann hänge   an das Ende der neuen Zeichenkette an.
2.4 Mache die neue Zeichenkette zur aktuellen Zeichenkette.
  • Zwei hintereinanderfolgende Ausgaben des Pseudocodes   und   schreibt man als   .
  • Existiert ein  , so dass   → ... →   gilt, so nennt man   ableitbar.
  • Existiert ein ableitbares  , so dass für alle Regeln aus   gilt:   → ... →     → ... →  , so sagt man,   konvergiert gegen  .

Siehe auch Bearbeiten

Literatur Bearbeiten

  • Henning Fernau: Iterierte Funktionen, Sprachen und Fraktale. B. I. Wissenschaftsverlag, Mannheim u. a. 1994, ISBN 3-411-17011-5, (Aspekte komplexer Systeme 2).
  • Grzegorz Rozenberg, Arto Salomaa: The Mathematical Theory of L-Systems. Academic Press, New York NY u. a. 1980, ISBN 0-12-597140-0, (Pure and Applied Mathematics 90).
  • Przemysław Prusinkiewicz, Aristid Lindenmayer: The Algorithmic Beauty of Plants. Springer Verlag, New York NY u. a. 1990, ISBN 3-540-97297-8, (The virtual Laboratory).
  • Elaine Rich: Automata, Computability and Complexity: Theory and Applications. Prentice Hall, Upper Saddle River (NJ) u. a. 2008, ISBN 978-0-13-228806-4.
  • Heinz-Otto Peitgen, Hartmut Jürgens, Dietmar Saupe: Chaos, Bausteine der Ordnung. Springer, Berlin u. a. 1994, ISBN 978-3608954357.

Weblinks Bearbeiten

Commons: L-System – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien