Die Kettenregel ist eine der Grundregeln der Differentialrechnung. Mit ihr wird die Ableitung einer Verkettung von zwei differenzierbaren Funktionen berechnet. In Lagrange-Notation lautet die Kettenregel:

Die Kettenregel lässt sich verallgemeinern auf Funktionen, die sich als Verkettung von mehr als zwei differenzierbaren Funktionen darstellen lassen. Auch eine solche Funktion ist wiederum differenzierbar, ihre Ableitung erhält man durch Multiplikation der Ableitungen aller ineinander verschachtelten Funktionen.

Die Kettenregel bildet einen Spezialfall der mehrdimensionalen Kettenregel für den eindimensionalen Fall.

Ihr Gegenstück in der Integralrechnung ist die Integration durch Substitution.

Historie Bearbeiten

Die Kettenregel scheint erstmals von Gottfried Wilhelm Leibniz verwendet worden zu sein. Er benutzte sie zur Berechnung der Ableitung von   als Kompositum der Quadratwurzelfunktion und der Funktion  . Er erwähnte sie erstmals in einer Denkschrift von 1676 (mit einem Vorzeichenfehler in der Berechnung). Die gängige Schreibweise der Kettenregel geht auf Leibniz zurück.[1] Guillaume de l’Hôpital verwendete die Kettenregel implizit in seiner Analyse des infiniment petits. Die Kettenregel taucht in keinem der Analysis-Bücher von Leonhard Euler auf, obwohl sie über hundert Jahre nach Leibniz' Entdeckung geschrieben wurden.

Es wird angenommen, dass die erste „moderne“ Version der Kettenregel in Lagranges „Théorie des fonctions analytiques“ von 1797 auftaucht; sie erscheint auch in Cauchys „Résumé des Leçons données a L'École Royale Polytechnique sur Le Calcul Infinitesimal“ von 1823.[1]

Mathematische Formulierung Bearbeiten

Seien   offene Intervalle,   und   Funktionen mit  .

Die Funktion   sei im Punkt   differenzierbar und   sei im Punkt   differenzierbar.

Dann ist die „zusammengesetzte“ Funktion (Komposition)

 

im Punkt   differenzierbar und es gilt:

 

Im Zusammenhang mit der Kettenregel nennt man   auch die äußere,   die innere Funktion von  .

Praktische Merkregel: Die Ableitung einer durch Verkettung gebildeten Funktion im Punkt   ist die „äußere Ableitung“  , ausgewertet an der Stelle  , mal der Ableitung der inneren Funktion  , ausgewertet an der Stelle  . Oder kurz: „Äußere Ableitung mal innere Ableitung“.

Beispiel Bearbeiten

Es wird die durch   definierte Funktion   betrachtet.

Diese lässt sich darstellen als Verkettung der Funktion

 

mit der Funktion

 

denn es gilt  . Hierbei nennt man   äußere und   innere Funktion.

Für die Anwendung der Kettenregel benötigen wir die Ableitungen   (äußere Ableitung) und   (innere Ableitung):

 

und

 

Da sowohl   als auch   differenzierbar sind, ist nach der Kettenregel auch   differenzierbar, und es gilt für ihre Ableitung:

 

Nun ist  , so dass wir insgesamt erhalten:

 

Unter Zuhilfenahme von Farbe lässt sich die eingangs formulierte Merkregel auch im Formelbild wiedererkennen.

 

Man beachte, dass die Darstellung einer Funktion als Verkettung einer äußeren mit einer inneren Funktion keineswegs eindeutig sein muss. So lässt sich die Beispielfunktion auch als Verkettung der Funktionen   und   auffassen, denn auch für diese beiden Funktionen gilt:

 

Die Anwendung der Kettenregel ist in diesem Fall rechnerisch aufwendiger, da zumindest der Term   ausmultipliziert werden muss.

Insgesamt lässt sich an diesem Beispiel die Kettenregel im Sinne der konstruktivistischen Didaktik selbst entdecken. Ausmultiplizieren ergibt:

 .

Nach Ableiten wird durch Ausklammern die innere Funktion   herauspräpariert:

 .

Hieraus lässt sich dann die Kettenregel vermuten, die dann noch in ihrer Allgemeingültigkeit bewiesen werden muss.

Heuristische Herleitung Bearbeiten

Für die Berechnung der Ableitung von   ist der Differenzenquotient   zu berechnen. Erweitert man diesen Bruch mit  , so erhält man:

 .

Durch den Grenzübergang   gehen die Differenzenquotienten in Differentialquotienten über. Geht   gegen Null, dann auch  . Man erhält dann insgesamt für die Ableitung der verketteten Funktion:

 

Beweis Bearbeiten

Man definiert

 

Weil   in   differenzierbar ist, gilt

 

das heißt, die Funktion   ist an der Stelle   stetig. Außerdem gilt für alle  :

 

Wegen   folgt daraus:

 

Komplexe Funktionen Bearbeiten

Seien   offene Teilmengen, z. B. Gebiete,   und   Funktionen mit  .

Die Funktion   sei im Punkt   differenzierbar und   sei im Punkt   differenzierbar.

Dann ist die zusammengesetzte Funktion

 

im Punkt   differenzierbar und es gilt:

 

Fazit: Die komplexe Kettenregel ist (einschließlich ihres Beweises) völlig analog zum Reellen.

Verallgemeinerung auf mehrfache Verkettungen Bearbeiten

Etwas komplizierter wird das Differenzieren, wenn mehr als zwei Funktionen verkettet sind. In diesem Fall wird die Kettenregel rekursiv angewendet. Beispielsweise ergibt sich bei Verkettung von drei Funktionen u, v und w

 

die Ableitung

 

Im Allgemeinen besitzt die Funktion

 

die Ableitung

 

wie sich durch vollständige Induktion beweisen lässt. Beim praktischen Berechnen der Ableitung multipliziert man also Faktoren, die sich folgendermaßen ergeben:

Den ersten Faktor erhält man dadurch, dass man die äußerste Funktion durch eine unabhängige Variable ausdrückt und ableitet. Anstelle dieser unabhängigen Variablen ist der Rechenausdruck für die restlichen (inneren) Funktionen einzusetzen. Der zweite Faktor wird entsprechend berechnet als Ableitung der zweitäußersten Funktion, wobei auch hier der Rechenausdruck für die zugehörigen inneren Funktionen einzusetzen ist. Dieses Verfahren setzt man fort bis zum letzten Faktor, der innersten Ableitung.

Als Beispiel kann wiederum die Funktion   dienen. Diese lässt sich darstellen als Verkettung der drei Funktionen:

 

denn es gilt:

 

Damit liefert die auf mehrfache Verkettungen verallgemeinerte Kettenregel mit

 

die Ableitung

 

Verallgemeinerung für höhere Ableitungen Bearbeiten

Eine Verallgemeinerung der Kettenregel für höhere Ableitungen ist die Formel von Faà di Bruno. Sie ist wesentlich komplizierter und schwieriger zu beweisen.

Sind   und   zwei  -mal differenzierbare Funktionen, deren Verkettung   definiert ist, so gilt

 

Hierbei bezeichnet   die  -te Ableitung von   an der Stelle  . Die Menge  , über die summiert wird, enthält alle  -Tupel   aus nichtnegativen, ganzen Zahlen mit  .

Verallgemeinerung auf Funktionen und Abbildungen mehrerer Veränderlicher Bearbeiten

Hier betrachtet man differenzierbare Funktionen (Abbildungen)  . Die Ableitung einer solchen Abbildung im Punkt   ist dann eine lineare Abbildung  , die durch eine  -Matrix, die Jacobi-Matrix   dargestellt werden kann.

Die Kettenregel besagt, dass die Verkettung von zwei differenzierbaren Abbildungen wieder differenzierbar ist. Ihre Ableitung erhält man, indem man die einzelnen Ableitungen verkettet. Die zugehörige Jacobi-Matrix ist das Matrizenprodukt der einzelnen Jacobi-Matrizen.

Im Detail: Sind die Abbildungen   im Punkt   und   im Punkt   differenzierbar, so ist auch die Verkettung   im Punkt   differenzierbar, und es gilt

 

und

 

In ähnlicher Form lässt sich eine Kettenregel für Fréchet-Ableitungen von Abbildungen zwischen Banachräumen und für die Ableitungen (Differentiale, Tangentialabbildungen) von Abbildungen zwischen differenzierbaren Mannigfaltigkeiten formulieren.

Abweichende Notationen in der Physik und anderen Wissenschaften Bearbeiten

In vielen Naturwissenschaften wie der Physik sowie in der Ingenieurwissenschaft findet die Kettenregel breite Anwendung. Allerdings hat sich hier eine besondere Notation entwickelt, die von der mathematischen Notation der Kettenregel deutlich abweicht.

Vorstellung der Notation Bearbeiten

In physikalischer Literatur wird für die Ableitung einer Funktion   nach der Variable   in der Regel die Schreibweise

 

bevorzugt. Ist   eine Verkettung zweier Funktionen:   mit  , so präsentiert sich die Kettenregel in dieser Notation:

 

Es ist zusätzlich gängige Konvention, die unabhängige Variable der Funktion   mit dem Funktionssymbol der inneren Funktion   zu identifizieren, dafür aber sämtliche Argumentklammern auszulassen:

 

Letztlich wird für die Verkettung   kein neues Symbol eingeführt, sondern die gesamte Verkettung mit der äußeren Funktion   identifiziert:  .

Die Kettenregel nimmt dann das folgende Aussehen an:

 

Formal stellt sich die Kettenregel hier als eine Erweiterung des „Bruches“   mit   dar, so dass es in physikalischer Fachliteratur (und auch in anderen Natur- und Ingenieurwissenschaften) gängig ist, die Kettenregel bei Anwendung nicht namentlich zu erwähnen. Stattdessen findet man oft Ersatzformulierungen, so ist etwa von der „Erweiterung von   mit  “ die Rede, teilweise fehlt eine Begründung vollständig. Auch wenn dies für das ungeübte Auge nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist, steckt hinter all diesen Formulierungen ausnahmslos die Kettenregel der Differentialrechnung.

Obwohl die vorgestellte Notation mit einigen mathematischen Konventionen bricht, erfreut sie sich großer Beliebtheit und weiter Verbreitung, da sie es ermöglicht, mit Ableitungen (zumindest salopp) wie mit „normalen Brüchen“ zu rechnen. Viele Rechnungen gestaltet sie außerdem übersichtlicher, da Klammern entfallen und nur sehr wenige Symbole verwendet werden müssen. Vielfach stellt auch die durch eine Verkettung beschriebene Größe eine bestimmte physikalische Variable dar (z. B. eine Energie oder eine elektrische Spannung), für die ein bestimmter Buchstabe „reserviert“ ist (etwa E für Energie und U für Spannung). Die obige Notation ermöglicht es, diesen Buchstaben in der gesamten Rechnung durchgängig zu verwenden.

Beispiel Bearbeiten

Die kinetische Energie eines Körpers hängt von seiner Geschwindigkeit   ab:  . Hängt die Geschwindigkeit wiederum von der Zeit ab,  , so ist auch die kinetische Energie des Körpers eine Funktion der Zeit, die durch die Verkettung

 

beschrieben wird. Möchten wir die Änderung der kinetischen Energie nach der Zeit berechnen, so gilt nach der Kettenregel

 

In physikalischer Literatur würde man die letzte Gleichung in folgender (oder ähnlicher) Gestalt vorfinden:

 

Klarer Vorteil ist die durchgängige Verwendung von Funktionssymbolen, deren Buchstaben mit denen der zugrunde liegenden physikalisch relevanten Größe (  für Energie,   für Geschwindigkeit) übereinstimmen.

Literatur Bearbeiten

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b Omar Hernández Rodríguez, Jorge M. López Fernández: A Semiotic Reflection on the Didactics of the Chain Rule. In: The Mathematics Enthusiast. 7. Jahrgang, Nr. 2, 2010, S. 321–332, doi:10.54870/1551-3440.1191 (englisch, umt.edu [abgerufen am 4. August 2019]).