Institutiones Gai
Die Institutiones Gai sind eine Juristenschrift aus dem klassischen Zeitalter des römischen Rechts. Bezugnehmend auf den Urheber Gaius wird sie auch als Gaii Institutiones, Liber Gai, häufig nur als die Institutionen bezeichnet. Das Werk diente als Anfängeranweisung für den juristischen Lehrbetrieb ab Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. und wurde vom spätantiken Kaiser Justinian im Rahmen der Schaffung des Corpus iuris kompiliertes Bestandteil der Institutiones Iustiniani und zählt daher zur Erklärungsliteratur. Außerdem findet es sich in nachklassischen Paraphrasierungen der Epitome Gai.
Die Schrift ist das einzige nahezu vollständig erhaltene Werk, das unmittelbar aus der bedeutenden klassisch-rechtlichen Zeit des Prinzipats herrührt. Erhalten geblieben ist ein Exemplar, das etwa um 160/161 n. Chr. entstanden ist.
Bedeutung
BearbeitenDie Institutionen wurden 1816 von Niebuhr in Form eines Palimpsestes in Verona entdeckt (Codex Veronensis). Unter dem augenscheinlichen Text, welcher die Briefe des Kirchenvaters Hieronymus enthielt, fand man eine ausradierte, um 500 n. Chr. erstellte Abschrift der Institutionen des Gaius, die bis dato nur in wenigen Fragmenten der Digesten belegt waren. Diese wurden um etwa 160/161 n. Chr., also noch unter Antoninus Pius, angefertigt und gelten als die „in der Antike am meisten verbreitete und in der Spätantike, Mittelalter und Neuzeit weitaus einflußreichste elementar-systematische Darstellung des römischen Privatrechts“.[1]
Nahezu alle heutigen Kenntnisse des römischen Rechts entstammen der justinianischen Tradition. Aus diesem Grund haben die gaianischen Institutionen hinsichtlich Art und Umfang der Repräsentation des klassischen Zeitalters nahezu Alleinstellungscharakter. Geboten werden die Vorzüge eines zusammenhängenden Schulvortrags, verteilt auf vier Bücher, der durch seine Klarheit und Verständlichkeit, seinen strukturierten systematischen Aufbau und historischen Unterfütterung besticht.[2] Dem Rechtsdenken des Gaius wird zuerkannt, der dogmatischen Tradition kontinentaler Jurisprudenz (also dem Systemstreben, der Bemühung um Begriffsbildung und Einteilung sowie der Tendenz zur Abstraktion) näher gekommen zu sein, als die Methode irgendeines anderen antiken Juristen.[3] Inwieweit die Institutionen als allein von Gaius verfasstes Werk gelten dürfen, und was an ihnen etwa Glossen oder Interpolationen sind, unterliegt bis heute lediglich wissenschaftlichen Spekulationen. Max Kaser weist die Schrift keinem der großen Klassiker zu, sondern einem kleinformatigeren Schuljuristen.[4] Die Wissenschaft ist sich allerdings über die enorme Bedeutung des Fundes einig, da „zahlreiche Rechtsinstitute, die die justinianische Kommission als veraltet unerwähnt ließ, nur durch den neuen Fund bekannt“ sind.[5]
Der Neuzeit ist das gaianische Werk in mehrfacher Form indirekt überliefert,[6] da das Werk während des 5. und des 6. Jahrhunderts häufiger als Vorlage für diverse Rechtsschriften verwendet wurde. Verhältnismäßig geringfügige Einblicke gewährt dabei die so genannte augustodunensische Handschrift. Größere Bedeutung für die Forschung erlangten die spätantiken Manuskripte der Collatio und der Epitome Gai (enthalten in der Lex Romana Visigothorum) sowie der regulae Ulpiani. Später bekannt als Bestandteile des CIC, fanden die gaianischen Einflüsse im Rahmen der justinianischen Rechtsordnung Einlass in die Digesten und die Institutiones Iustiniani.[6]
Eine lediglich frühnachklassische Bearbeitung des originalen Urstoffes bilden die Sententiae Receptae (auch pseudopaulinische Sentenzen genannt), denen in der Sache keine authentische Textwiedergabe mehr bescheinigt wird.[7] Da davon ausgegangen werden muss, dass viele Teile des originären klassischen Rechts schon früh nach dessen Zusammenbruch verloren gegangen sind,[8] bereitet die erheblichsten Schwierigkeiten die Interpolationskritik. Der Grad der Erkenntnis des klassischen Rechts, hängt davon ab, welchen Grad des Eingriffs man antrifft, eine Herausforderung für die Textkritik der Gegenwart.[7]
Aufbau
BearbeitenDie Institutionen selbst sind in einem Schema nach Personen- und Familien- und Erbrecht (personae), Vermögensrecht (res) und Prozessrecht (actiones) aufgeteilt. Beim Personen- und Familien- und Erbrecht wird zwischen Freien und Sklaven unterschieden. Das Vermögensrecht zerfällt in körperliche Sachen (res corporales) und nicht körperliche Sachen (incorporales) sowie Erbrecht (hereditas), Ertragsrecht (usus fructus) und Schuldrecht (obligationes). Das Prozessrecht unterscheidet schließlich die dinglichen actiones in rem und die obligatorischen actiones in personam. Des Weiteren werden die Obligationen in Vertrags- (ex contractu) und Deliktsobligationen (ex delicto) und die Kontrakte in Real-, Verbal-, Litteral- und Konsensualkontrakte eingeteilt.
Diese dem hellenistischen Lehrbuchmuster entlehnte Klassifikation ersetzte und nivellierte vorhergehende Strukturen und wurde zu einem grundlegenden Institutionensystem, dem viele moderne Privatrechtssysteme folgen. So ist beispielsweise das österreichische ABGB nach dem Institutionensystem aufgebaut, im Gegensatz zum deutschen BGB, welches dem Pandektensystem folgt.
Ausgaben
Bearbeiten- Gaius: Institutiones. = Die Institutionen des Gaius (= Texte zur Forschung. 81). Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Ulrich Manthe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17474-7.
- Gai institutiones. Editio minor. (= Studia Gaiana. 1), hrsg. von M. David, Brill, Leiden 1964.
- Johann Friedrich Ludwig Göschen (Hrsg.): Gaii Institutionum commentarii IV. Reimer, Berlin 1820, (Digitalisat).
- Die Gaianischen Institutionen-Commentarien. Übersetzt von Friedrich Beckhaus. Henry und Cohen, Bonn 1857 (Digitalisat).
Literatur
Bearbeiten- Alfons Bürge: Römisches Privatrecht. Rechtsdenken und gesellschaftliche Verankerung. Eine Einführung (= Die Altertumswissenschaft.). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, ISBN 3-534-10095-6.
- Mario Bretone: Geschichte des römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. 2. Auflage. Beck, München 1998, ISBN 3-406-44358-3.
- Tomasz Giaro: Gaius. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 4, Metzler, Stuttgart 1998, ISBN 3-476-01474-6, Sp. 737–738.
- Ulrich Manthe: Die Rechtskulturen der Antike. Vom alten Orient bis zum Römischen Reich. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50915-0.
- Hein L. W. Nelson: Überlieferung, Aufbau und Stil von Gai Institutiones (= Studia Gaiana. 6). Brill, Leiden 1981, ISBN 90-04-06306-4.
- Dieter Nörr: Rechtskritik in der römischen Antike (= Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Abhandlungen. NF 77). Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 1974, ISBN 3-7696-0072-X.
- Leopold Wenger: Die Quellen des römischen Rechts (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Denkschriften der Gesamtakademie. 2, ZDB-ID 528265-2). Holzhausen, Wien 1953.
- Bastian Zahn: Einführung in die Quellen des römischen Rechts. In: JURA – Juristische Ausbildung, 2015, S. 454 f.
Weblinks
BearbeitenEinzelnachweise
Bearbeiten- ↑ Theo Mayer-Maly: Gaius 1. In: Der Kleine Pauly (KlP). Band 2, Stuttgart 1967, Sp. 660–662, hier Sp. 660.
- ↑ Michel Humbert: Faktoren der Rechtsbildung. In: Ulrike Babusiaux, Christian Baldus, Wolfgang Ernst, Franz-Stefan Meissel, Johannes Platschek, Thomas Rüfner (Hrsg.): Handbuch des Römischen Privatrechts. Mohr Siebeck, Tübingen 2023, ISBN 978-3-16-152359-5. Band I, S. 3–31, hier S. 29 (Rnr. 53).
- ↑ Theo Mayer-Maly: Gaius 1. In: Der Kleine Pauly (KlP). Band 2, Stuttgart 1967, Sp. 660–662, hier Sp. 660.
- ↑ Max Kaser: SZ Band 70 (1953). S. 127 ff.
- ↑ Éva Jakab, Ulrich Manthe: Recht in der römischen Antike. In: Ulrich Manthe (Hrsg.): Die Rechtskulturen der Antike. Vom Alten Orient bis zum Römischen Reich. Verlag C. H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-50915-0, S. 239–317, hier S. 256.
- ↑ a b Hein L. W. Nelson: Überlieferung, Aufbau und Stil von Gai Institutiones. 1981, S. 80 und 96 ff.
- ↑ a b Max Kaser: Das Römische Privatrecht. Erster Abschnitt. Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht. C. H. Beck Verlag München 1955 (Zehnte Abteilung, Dritter Teil, Dritter Band, Erster Abschnitt) § 47, S. 168 ff.
- ↑ Max Kaser: SZ Band 69 (1952). S. 60 ff.