Guanfacin ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Antisympathotonika. Es senkt in niedrigen Dosen anhaltend den Blutdruck. Außer in der Behandlung des Bluthochdrucks wird Guanfacin auch in der Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eingesetzt. Es ist oral wirksam.

Strukturformel
Strukturformel von Guanfacin
Allgemeines
Freiname Guanfacin
Andere Namen

N-(Diaminomethyliden)-2-(2,6-dichlorphenyl)acetamid

Summenformel C9H9Cl2N3O
Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer
EG-Nummer 249-442-8
ECHA-InfoCard 100.044.933
PubChem 3519
ChemSpider 3399
DrugBank DB01018
Wikidata Q5613599
Arzneistoffangaben
ATC-Code

C02AC02

Eigenschaften
Molare Masse 246,09 g·mol−1
Aggregatzustand

fest

Schmelzpunkt

211–215 °C[1]

Sicherheitshinweise
Bitte die Befreiung von der Kennzeichnungspflicht für Arzneimittel, Medizinprodukte, Kosmetika, Lebensmittel und Futtermittel beachten
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung[1]

Gefahr

H- und P-Sätze H: 301
P: 264​‐​270​‐​301+310+330​‐​405​‐​501[1]
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Bei ADHS zeigt es eine größere Effektstärke als Atomoxetin, aber eine kleinere als Stimulanzien wie z. B. Methylphenidat.[2]

Anwendungsgebiete Bearbeiten

Bluthochdruck Bearbeiten

Guanfacin ist ein Abkömmling des Clonidins und wurde ursprünglich zur Behandlung des Bluthochdrucks eingesetzt.[3] Es bewirkte eine Senkung des Blutdrucks um etwa 16 %,[4] konnte sich aber als Blutdrucksenker nicht dauerhaft am Markt behaupten, nachdem modernere Antihypertonika mit günstigerem Nutzen-Risiko-Verhältnis entwickelt worden waren.[3]

ADHS Bearbeiten

Seit September 2015 ist Guanfacin in der Europäischen Union zur Behandlung von ADHS bei 6- bis 17-Jährigen, für die eine Behandlung mit Stimulanzien nicht in Frage kommt, nicht vertragen wird oder unwirksam war, zugelassen.[5] Guanfacin wird in retardierter Form verabreicht und darf nur im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie angewendet werden, die in der Regel auch psychologische, pädagogische und soziale Maßnahmen umfasst.

In einer 2020 veröffentlichten klinischen Phase-III Studie erwies sich Guanfacin auch bei Erwachsenen mit ADHS als wirksam.[6] In Deutschland ist Guanfacin (Intuniv) bisher nicht für Erwachsene zugelassen und somit lediglich im Off-Label-Use verschreibbar. In den USA ist Guanfacin seit 2009 auch für Erwachsene mit ADHS zugelassen, wobei es in Kombination mit einem Stimulanz eingesetzt werden kann.[7]

In Studien hat sich Guanfacin auch bei 2 und 3 Jahre alten Kindern mit ADHS als wirksam erwiesen.[8]

Pharmakologie Bearbeiten

Biochemie Bearbeiten

Die Verbindung wirkt als sehr selektiver Agonist am α2-Adrenozeptor.[9][10] Daneben bindet es auch als selektiver Agonist an den 5-HT2B-Rezeptor.[11] Neuere Forschung zeigt, dass Guanfacin ähnlich wie Amphetamin ein potenter Agonist am TAAR1 Rezeptor ist.[12] In Ratten führt Guanfacin eventuell zu einem verbesserten Kurzzeitgedächtnis durch die Hemmung der Bildung des sekundären Botenstoffs cAMP im präfrontalen Cortex.[13]

Wirkungsmechanismus Bearbeiten

Für die blutdrucksenkende Wirkung ist einerseits die Stimulierung der α2-Adrenozeptoren mit der Folge einer verminderten Noradrenalinfreisetzung als auch die agonistische Wirkung an den Imidazolinrezeptoren ursächlich. Es resultiert eine Abnahme des peripheren Gefäßwiderstandes, der Herzfrequenz und des Herzzeitvolumens.[14]

Der Wirkmechanismus von Guanfacin in der Behandlung von ADHS ist nicht vollständig geklärt. Bei Ratten zeigte sich ein dosisabhängiger Rückgang von Impulsivität, der einer angenommenen Unterstützung von Funktionen im präfrontalen Cortex zugeordnet wurde.[15]

Pharmakokinetik Bearbeiten

Die orale Bioverfügbarkeit liegt bei nahezu 100 %. Es gibt keine Hinweise auf einen First-Pass-Effekt. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt 17 Stunden. Guanfacin wird überwiegend über die Niere ausgeschieden. Im Zuge der Biotransformation werden 3-Hydroxyguanfacinglucuronid und 3-Hydroxyguanfacinsulfat als Hauptmetaboliten gebildet. Zu etwa 30 % wird Guanfacin unverändert ausgeschieden.[16]

Geschichte Bearbeiten

Guanfacin wurde zuerst 1974 unter dem Codenamen „BS 100-141“ im Rahmen der Frühjahrstagung der Deutschen Pharmakologischen Gesellschaft in Mainz als eine neue pharmakologisch wirksame Substanz vorgestellt.[17] Es wurde 1979 zur Behandlung des Bluthochdrucks unter dem Markennamen Estulic vom damaligen Sandoz-Tochterunternehmen Wander eingeführt.[3] Seit der Zulassung des Wirkstoffs durch die US-amerikanische Food and Drug Administration im Jahr 1986 ist Guanfacin auch in den USA zur Behandlung des Bluthochdrucks auf dem Markt. Im September 2009 wurde Guanfacin unter dem Handelsnamen Intuniv zunächst in den USA zur Behandlung des ADHS zugelassen.[18] Im September 2015 folgte die arzneimittelrechtliche Zulassung in der EU durch die Europäische Arzneimittel-Agentur.[5] Im Juni 2019 erfolgte die erstmalige Zulassung von Guanfacin für ADHS bei Erwachsenen in Japan.[19]

Handelsnamen Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b c Eintrag zu Guanfacin-Hydrochlorid bei TCI Europe, abgerufen am 2. Februar 2016.
  2. N. T. Bello: Clinical utility of guanfacine extended release in the treatment of ADHD in children and adolescents. In: Patient preference and adherence. Band 9, 2015, S. 877–885. doi:10.2147/PPA.S73167. PMID 26170637, PMC 4494608 (freier Volltext) (Review).
  3. a b c K. Neumann: Zweite Chance für Guanfacin, 6. Oktober 2015.
  4. P. Jerie: Clinical experience with guanfacine in long-term treatment of hypertension. In: British journal of clinical pharmacology. Band 10, Suppl 1, 1980, S. 37S–47S. PMID 6994777, PMC 1430120 (freier Volltext).
  5. a b Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA): Intuniv / guanfacine, abgerufen am 3. Februar 2016.
  6. Akira Iwanami, Kazuhiko Saito, Masakazu Fujiwara, Daiki Okutsu, Hironobu Ichikawa: Efficacy and Safety of Guanfacine Extended-Release in the Treatment of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder in Adults: Results of a Randomized, Double-Blind, Placebo-Controlled Study. In: The Journal of Clinical Psychiatry. Band 81, Nr. 3, 14. April 2020, S. 19m12979, doi:10.4088/JCP.19m12979, PMID 32297719.
  7. Guanfacin – Zulassung bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS. In: Kompendium psychiatrische Pharmakotherapie. Springer Medizin, 17. Februar 2016, abgerufen am 23. April 2023.
  8. Bernard J. Lee: Clinical experience with guanfacine in 2- and 3-year-old children with Attention Deficit Hyperactivity Disorder. In: Infant Mental Health Journal. Band 18, Nr. 3, September 1997, S. 300–305, doi:10.1002/(SICI)1097-0355(199723)18:33.0.CO;2-Q.
  9. Amy FT Arnsten: The use of α-2A adrenergic agonists for the treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder. In: Expert Review of Neurotherapeutics. Nr. 10, Oktober 2010, S. 1595–1605, doi:10.1586/ern.10.133, PMC 3143019 (freier Volltext).
  10. B. L. Roth, J. Driscol: PDSP Ki Database. University of North Carolina at Chapel Hill and the United States National Institute of Mental Health.
  11. X.-P. Huang, V. Setola, P. N. Yadav, J. A. Allen, S. C. Rogan, B. J. Hanson, C. Revankar, M. Robers, C. Doucette, B. L. Roth: Parallel Functional Activity Profiling Reveals Valvulopathogens Are Potent 5-Hydroxytryptamine2B Receptor Agonists: Implications for Drug Safety Assessment. In: Molecular Pharmacology. 76, 2009, S. 710. doi:10.1124/mol.109.058057. PMC 2769050 (freier Volltext).
  12. Elena Cichero, Valeria Francesconi, Beatrice Casini, Monica Casale, Evgeny Kanov, Andrey S. Gerasimov, Ilya Sukhanov, Artem Savchenko, Stefano Espinoza, Raul R. Gainetdinov, Michele Tonelli: Discovery of Guanfacine as a Novel TAAR1 Agonist: A Combination Strategy through Molecular Modeling Studies and Biological Assays. In: Pharmaceuticals. Band 16, Nr. 11, 20. November 2023, S. 1632, doi:10.3390/ph16111632, PMID 38004497, PMC 10674299 (freier Volltext).
  13. B. P. Ramos, D. Stark, L. Verduzco, C. H. van Dyck, A. F. Arnsten: Alpha2A-adrenoceptor stimulation improves prefrontal cortical regulation of behavior through inhibition of cAMP signaling in aging animals. In: Learning & memory. Band 13, Nummer 6, Nov-Dez 2006, S. 770–776. doi:10.1101/lm.298006. PMID 17101879, PMC 1783631 (freier Volltext).
  14. Ernst Mutschler, Monika Schäfer-Korting: Arzneimittelwirkungen. Lehrbuch der Pharmakologie und Toxikologie. 7. Auflage. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1996, S. 294.
  15. A. B. Fernando, D. Economidou, D. E. Theobald, M. F. Zou, A. H. Newman, M. Spoelder, D. Caprioli, M. Moreno, L. Hipólito, A. T. Aspinall, T. W. Robbins, J. W. Dalley: Modulation of high impulsivity and attentional performance in rats by selective direct and indirect dopaminergic and noradrenergic receptor agonists. In: Psychopharmacology. Band 219, Nummer 2, Januar 2012, S. 341–352. doi:10.1007/s00213-011-2408-z. PMID 21761147, PMC 3249163 (freier Volltext).
  16. J. R. Kiechel: Pharmacokinetics and metabolism of guanfacine in man: a review. In: British journal of clinical pharmacology. Band 10, Suppl 1, 1980, S. 25S–32S. PMID 6994775, PMC 1430131 (freier Volltext).
  17. G. Scholtysik: Inhibition of effects of accelerator nerve stimulation in cats and rabbits by BS 100-141 and guanabenz. In: Naunyn Schmiedebergs Arch. Pharmacol. Band 282, (Suppl), 1974, S. R86. PMID 4276642
  18. Drugs.com: Shire Announces FDA Approval of Once-Daily Intuniv (guanfacine) Extended Release Tablets for the Treatment of ADHD in Children and Adolescents Aged 6 to 17, abgerufen am 17. Februar 2017.
  19. Shionogi Got Approval of Additional Indication of INTUNIV in Japan for Treatment of Adult ADHD - CMOCRO. Abgerufen am 19. November 2021 (englisch).