Edgar Ascher

Schweizer Physiker, Kristallograph, Mineraloge und Forscher

Edgar Ascher (* 6. Januar 1921 in Győr, Ungarn; † 28. Juli 2006 in Genf, Schweiz) war ein Schweizer[1] Physiker, Kristallograph und Mineraloge jugoslawischer Abstammung (aus Tišina bei Sisak, Kroatien), der vor allem am Advanced Studies Center des Battelle-Instituts in Genf tätig war.

Leben und Werk Bearbeiten

Ascher wuchs in Wien auf. Als er eine höhere Schule besuchte, verliess seine jüdische Familie Österreich, um dem drohenden Holocaust zu entkommen. Sein Abitur absolvierte er 1939 in kroatischer Sprache in Zagreb. Nachdem diese Stadt am 10. April 1941 durch die deutsche Armee besetzt wurde, zog die Mutter mit ihren Kindern weiter nach Slowenien. Ein Jahr später flüchteten sie weiter nach Nonantola in der Provinz Modena in Italien, wo Ascher ein Jahr lang in der Villa Emma als jugendlicher (Hilfs-)Betreuer unterkam, bevor diese mit Hilfe der Bevölkerung und von Schmugglern in die Schweiz gebracht wurden. Ascher traf sich mit Mutter und Schwester, die anderswo untergekommen waren, und sie vollbrachten denselben Kraftakt in eigener Regie.

In der Schweiz konnte Ascher dank eines Stipendiums an den Universitäten Basel und Lausanne studieren. 1949 erwarb er das Lizentiat in Physik, und 1954 doktorierte er bei Albert Perrier an der EPUL (Vorläuferin der EPFL) zum Hall-Effekt in ferromagnetischen Fe-Ni-Legierungen[2].

Anschliessend ging er zum Battelle Forschungsinstitut in Genf, wo er während mehr als 25 Jahren tätig war, ab 1967 in der Forschungsgruppe Advanced Studies Center. Besonders gut waren die Beziehungen zu den Kollegen Aloysio Janner, nachmals Professor für Theoretische Physik an der Katholischen Universität Nijmegen (heute Radboud-Universität Nijmegen), Hans Schmid, später Professor für Anorganische Angewandte Chemie, Festkörperchemie und Materialwissenschaften an der Universität Genf. Ein Mitarbeiter von Ascher war Hans Grimmer, der 1968 zu Battelle kam, später Titularprofessor für Kristallographie an der Universität Zürich wurde und am Paul Scherrer Institut arbeitete. Diese Beziehungen blieben zeitlebens bestehen. Eine Liste aller fachspezifischen Arbeiten von Ascher, nach Jahrzehnten geordnet, findet sich auf seiner Gedenkseite.[3]

Er war Gründungsmitglied und zweiter Präsident der 1968 gegründeten Schweizerischen Gesellschaft für Kristallographie.

Publikationen Bearbeiten

Die meisten seiner für Kristallographie und Festkörperphysik bedeutenden Arbeiten erschienen zwischen 1964 und 1969. Gemeinsam mit Aloysio Janner wandte er moderne algebraische Methoden zur Untersuchung der Struktur kristallographischer Raumgruppen[4][5] und später relativistischer Symmetriegruppen von Systemen mit räumlicher und zeitlicher Periodizität an.

In Zusammenarbeit mit Hans Schmid beschäftigte er sich mit Boraziten und ihren elektrischen, magnetischen und magnetoelektrischen Eigenschaften, was in der Demonstration der Koexistenz von spontaner Magnetisierung und Polarisation in Boraziten mit 3d-Übergangsmetallen gipfelte.[6]

Er bestimmte die Tensoren der Heesch-Shubnikov-Punktgruppen, die die bilinearen magnetoelektrischen Effekte ermöglichten. Er leitete Ober- und Untergrenzen des magnetoelektrischen Suszeptibilitätstensors und Obergrenzen für verschiedene andere elektrische und magnetische Eigenschaften ab. Und er untersuchte schon vor einem halben Jahrhundert die Eigenschaften von Spontanströmen, bestimmte die entsprechenden 31 Magnetpunktgruppen für Kristalle, die einen zeitlich ungeraden Polarvektor zulassen, und sagte verwandte neue Phänomene voraus.[7] Später erweiterte er diese Ergebnisse auf die Beschreibung kinetoelektrischer und kinetomagnetischer Effekte in Kristallen.[8] In den letzten Jahren haben diese 31 Gruppen große praktische Bedeutung erhalten, da sie jene magnetoelektrischen Kristalle beschreiben, die ein spontanes toroidales Moment ermöglichen. Zwei wichtige Arbeiten folgten dann noch 1977 und betrafen Symmetrieaspekte von Phasenübergängen.[9][10]

Ascher war in einer Reihe von Sprachen versiert/sattelfest und wurde von vielen renommierten Institutionen in Europa zu Fachvorträgen eingeladen. An der École polytechnique fédérale de Lausanne (ETH Lausanne) hielt er Anfang der 1970er-Jahre eine ausgezeichnete Vorlesungsreihe über „Erweiterungen und Kohomologie von Gruppen“ (Extensions et Cohomologie de groupes)[11] unter Anwendung auf kristallographische Raumgruppen, und er las über „Grenzen des Wachstums: Methodische Überlegungen zum ‚Weltmodell‘ von Forrester“.[12] Eine weitere Vorlesungsreihe hiess „Mathematische Modelle und zeitgenössische Probleme“ (Modèles mathématiques et problèmes contemporains).[13] In diesem Zeitraum bot ihm die École polytechnique fédérale de Lausanne (ETH Lausanne/EPFL) eine Professur an, die er jedoch ablehnte.

Gegen Ende der 1970er-Jahre begann sich Aschers langjähriges Interesse an philosophischen und psychologische Themen und speziell der Forschungstätigkeit von Jean Piaget (Leiter des Internationalen Zentrums für genetische Erkenntnistheorie, 1955–1985, an der Universität Genf) auch in Publikationen niederzuschlagen.

Herausforderungen, die in diesem Zeitraum in den Vereinigten Staaten an das Forschungsinstitut Battelle herangetragen wurden, im Zusammenhang mit dessen Gemeinnützigkeitsstatus, führten schliesslich zu einer Redimensionierung der Forschungsstätten des Instituts in Europa. Ascher verlor seine Arbeitsstelle. Von diesem Zeitpunkt an bis zum Rentenalter war er dem Departement Theoretische Physik der Universität Genf angegliedert, wo er vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Projekte umsetzte,[14] und von wo aus er Lehraufträge an der École polytechnique fédérale de Lausanne wahrnahm.

Die Publikationen Aschers zu philosophischen und psychologischen Themen beginnen 1979, mit einem Text, der mit mathematischen Überlegungen zu Reihen ganzer Zahlen anfängt und die Verquickung der drei Themenbereiche deutlich macht.[15] Die nächsten zwei Jahrzehnte beschäftigte er sich hauptsächlich mit diesem Themenkreis.[16]

Würdigungen Bearbeiten

Zum 80. Geburtstag 2001 widmete ihm Hans Schmid, im Sinne einer Überraschung, seine Publikation On Ferrotoroidics and Electrotoroidic, Magnetotoroidic and Piezotoroidic Effects.[17]

Nach Aschers Tod fand anlässlich des XXI Congress of the International Union of Crystallography vom 23. bis 31. August 2008 in Osaka (Japan) ein Mikrosymposium (MS 89) statt mit dem Titel Space groups and their generalizations: A tribute to E. Ascher and J. J. Burckhardt, organisiert von der IUCr Commission on Mathematical and Theoretical Crystallography und geleitet von Hans Grimmer (PSI) und Massimo Nespolo. Für diesen Anlass verfasste Aloysio Janner eine illustrative Präsentation über Experiencing Space Groups.[18]

Im selben Jahr widmete Hans Schmid dem Andenken Aschers eine weitere Publikation mit dem Titel Some symmetry aspects of ferroics and single phase multiferroics.[19]

Literatur Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Belege liegen als Anhang zu Ticket#2022081410001934 beim Wikipedia-Support-Team vor und können durch dieses als korrekt bestätigt werden.
  2. Effet Hall, aimantation spontané et température (Dissertation). 12. August 1955, abgerufen am 9. April 2021 (französisch, englisch).
  3. Edgar Ascher: Books and Papers. 31. August 2006, abgerufen am 30. April 2021 (englisch, französisch).
  4. Edgar Ascher & Aloysio Janner: Algebraic Aspects of Crystallography, I. Space Groups as Extensions. In: Helvetica Physica Acta, Bd. 38. 1965, S. 551–572, abgerufen am 9. April 2021 (englisch).
  5. Edgar Ascher & Aloysio Janner: Algebraic Aspects of Crystallography, II. Non-primitive Translations in Space Groups. In: Communications in Mathematical Physics 11(2) (1968). S. 138–167, abgerufen am 11. April 2021 (englisch).
  6. E. Ascher, H. Rieder, H. Schmid, H. Stoessel: Some properties of ferromagnetoelectric nickel-iodine boracite, Ni3B7O13I. In: Journal of Applied Physics, 1966;37(3). S. 1404-5, abgerufen am 12. April 2021 (englisch).
  7. E. Ascher: Some properties of spontaneous currents. In: Helvetica Physica Acta 1966;39(1). S. 40–48, abgerufen am 12. April 2021 (englisch).
  8. E. Ascher: Kineto-electric and kinetomagnetic effects in crystals. In: International Journal of Magnetism (UK) 1974;5(4). S. 287–295, abgerufen am 12. April 2021 (englisch).
  9. E. Ascher, J. Kobayashi: Symmetry and phase transitions: the inverse Landau problem. In: Journal of Physics C: Solid State Physics 1977;10(9). S. 1349–1363, abgerufen am 12. April 2021 (englisch).
  10. E. Ascher: Permutation representations, epikernels and phase transitions. In: Journal of Physics C: Solid State Physics 1977;10(9). S. 1365–1377, abgerufen am 12. April 2021 (englisch).
  11. E. Ascher: Extensions et Cohomologie de groupes. In: Enseignement du troisième cycle de la Physique en Suisse Romande (Wintersemester 1971–1972). Abgerufen am 12. April 2021 (französisch).
  12. E. Ascher: Limites à la croissance: considérations méthodologiques au sujet du 'modèle du monde' proposé par Forrester. In: Revue européenne des sciences sociales T. 13, No. 34 (1975). S. 5–44, abgerufen am 12. April 2021 (französisch). Ursprünglich auf Deutsch
  13. E. Ascher: Introduction à un colloque sur les „Modèles mathématiques et problèmes contemporains“. In: Battelle, mit Hinweis auf Lausanne 16 juin 1972. 18 Seiten. Abgerufen am 12. April 2021 (französisch, englisch).
  14. Projekte beim SNF (1976–1987) (französisch)
  15. Erste psychologische Arbeit (1979) (französisch)
  16. Edgar Ascher: Arbeiten zu (fast ausschliesslich) philosophisch/psychologischen Themen zwischen 1980 und 1998. Abgerufen am 12. April 2021 (französisch, englisch).
  17. Hans Schmid: On Ferrotoroidics and Electrotoroidic, Magnetotoroidic and Piezotoroidic Effects Digitalisat
  18. Aloysio Janner: Präsentation über Experiencing Space Groups Digitalisat
  19. Hans Schmid: Some symmetry aspects of ferroics and single phase multiferroics Digitalisat
  20. SGK/SSCr Schweizerische Gesellschaft für Kristallographie (engl.)
  21. DGK Heft 33, S. 25–27 (PDF)