ER 56
Der ER 56 war ein ab 1955 entwickelter elektronischer Rechenautomat des Stuttgarter Unternehmens Standard Elektrik Lorenz (SEL) mit einem Fokus auf Datenverarbeitung.[1] Es wurden neun Exemplare hergestellt, davon wurden sechs verkauft und drei im unternehmenseigenen Rechenzentrum eingesetzt. Die Rechner wurden in der Logistik, in Behörden und staatlichen Unternehmen, sowie an Technischen Hochschulen und Universitäten betrieben.[2] Der ER 56 gehört zu den ersten für Computergrafik verwendeten Rechnern.[3]
Funktionsweise
BearbeitenZum Einsatz kamen anstelle von Elektronenröhren ausschließlich Transistoren, da diese eine höhere Ausfallsicherheit hatten. Außerdem hatten sie im Vergleich einen niedrigeren Platz- und Stromverbrauch.[1]
Die konkrete Ausführung des ER 56 variierte.[4] Bei einem ER 56 im SEL-Rechenzentrum kamen 30.000 Transistoren und 50.000 Dioden zum Einsatz. Die durchschnittliche Taktrate betrug 2 kHz. Die Wortlänge betrug 35 bit. Der Arbeitsspeicher konnte insgesamt 4400 Wörter aufnehmen, also umgerechnet ca. 19,3 kB, und hatte eine Zugriffszeit von 5 Mikrosekunden.[5][6] Anders als damals noch teilweise üblich, wurde kein separater Pufferspeicher verwendet, sondern dieser mit dem Arbeitsspeicher zusammengelegt.[7] Als Ergänzungsspeicher kamen eine Magnettrommel mit 12.000 Wörtern, also 52,5 kB, und einer Zugriffszeit von durchschnittlich 10 Millisekunden sowie acht Magnetbänder mit jeweils 2 Millionen Wörtern und damit einem Gesamtvolumen von 70 MB zum Einsatz.[5][6]
Es wurde das Rechnen mit Fest- und Gleitkommazahlen unterstützt. Mehrere Programme konnten mittels Time-Sharing parallel ausgeführt werden. Das System hatte eine durchschnittliche Verfügbarkeit von 95 %.[5]
Die Programmierung des ER 56 erfolgte in Maschinencode. Zum Planen von Programmen wurden Flussdiagramme verwendet. SEL bot eine eigene Zeichenschablone als Zubehör an, um deren Anfertigung zu vereinfachen.[8] An der TH Stuttgart wurden 1964 die Programmiersprache SYMBOL und ein Übersetzungsprogramm für den ER 56 entwickelt.[9]
Geschichte
BearbeitenDen Anstoß für die Entwicklung von elektronischen Rechenanlagen bei SEL gab ein Auftrag des Versandunternehmens Quelle für eine automatische Auftragsbearbeitung und Lagerbuchhaltung im Jahr 1955. Andere Anbieter hatten den Auftrag abgelehnt. Computer wurden zu jener Zeit hauptsächlich für technische und wissenschaftliche Aufgaben eingesetzt. Am Nikolaustag 1956 war das Informatik-System für Quelle fertiggestellt. Es war damals vermutlich die größte spezialisierte Datenverarbeitungsanlage der Welt.[1] Die Anmeldung des Konzepts zur automatischen Auftragsbearbeitung und Lagerbuchhaltung zum Patent wurde von Gustav Schickedanz gefördert, Georg Kramm wurde in dieser als Erfinder genannt.[10] Die Peripherie mit 50 Datenerfassungsplätzen und zugehörigen Druckern für die Materialentnahmescheine und Rechnungen wurde unter Leitung von Helmut Gröttrup entwickelt. Später wurde die Zahl der Arbeitsplätze auf 400 erhöht. Das Informatik-System wurde 16 Jahre lang von Quelle betrieben.[11]
1958 stellte das Informatikwerk Stuttgart, das noch unter der Standard Elektrik AG gegründet worden war, durch Karl Steinbuch unter Mitwirkung von Hans-Joachim Dreyer und Rolf Basten auf der Hannover Messe den „elektronischen Rechenautomaten ER 56“ vor und bewarb ihn als erste volltransistorisierte Rechenanlage aus Deutschland.[4][12] Steinbuch, inzwischen Technischer Direktor und Leiter der Zentralen Forschung des Unternehmens, legte seine Aufgabe jedoch zum Jahresende 1958 nieder, um einem Ruf der Technischen Hochschule Karlsruhe für eine Stellung als Ordinarius und Institutsleiter zu folgen. Im selben Jahr nahm die Deutsche Bundesbahn ein volltransistoriertes Fährschiff-Reservierungssystem von SEL in Betrieb.[12]
Im Jahr 1960 wurde ein ER 56 im SEL-Rechenzentrum aufgestellt[5], ein weiterer als Versuchsanlage zur Automatisierung des Postscheckdienstes bei der Deutschen Bundespost. Im selben Jahr wurde auch an der TH Stuttgart ein ER 56 in Betrieb genommen.[8] Später wurde der ER 56 von der TH Stuttgart an die Universität Kaiserslautern abgegeben.[2]
Im Jahr 1961 nahm die dänische Fluggesellschaft SAS eine Anlage für Fluggewichtserfassung und Ladungsverteilung mit einem in Lizenz gebauten Computersystem namens „ZEBRA“ auf Basis des ER 56 mit mehreren Eingabeplätzen in Betrieb.[13] Der Aufbau dieses Systems soll sich aber zu einem Fiasko für SEL entwickelt haben.[11]
Karl Steinbuch wollte nach seinem Wechsel von SEL an die TH Karlsruhe umgehend eine Anlage als Universitätsrechner für sein Institut an der Fakultät für Maschinenwesen erwerben. Im Jahr 1962 erhielt er über die Deutsche Forschungsgemeinschaft die Mittel zur Beschaffung. In diesem Jahr nahm zudem ein ER 56 an der Universidad de Chile seinen Betrieb auf.[14] Weitere Anlagen gelangten in die Universitäten Bonn und Köln.[2][9]
In der Folgezeit widmete sich Standard Elektrik Lorenz vermehrt der Entwicklung von Peripheriegeräten und ist spätestens 1964 aus der Herstellung von Computern ausgestiegen.
Peripheriegeräte
BearbeitenHommage à Paul Klee, 13/9/65 Nr.2 |
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Frieder Nake, 1965 |
Tusche auf Papier |
50 × 50 cm |
Victoria and Albert Museum, London |
Standard Elektrik Lorenz bot zur Ausgabe auf Lochstreifen einen Lochstreifenstanzer SL 614 und Lochstreifen-Schnellstanzer CR 3000 an. Für das Drucken alphanumerischer Zeichen wurden von SEL Zeilen-Schnelldrucker mit einer Breite von 40 bis 190 Zeichen sowie ein SEL Mosaik-Schnelldrucker CR 1000, der Zeichen aus mehreren Einzelpunkten zusammensetzte, angeboten.[8] Für das Einlesen von Daten wurden jeweils fotoelektrische Lochstreifen- und Lochkartenleser angeboten.[4]
Frieder Nake entwickelte an der TH Stuttgart ein Übersetzungsprogramm, um den Graphomat Z64 von der Zuse KG mit einem ER 56 verwenden zu können. Die Zuse KG bot entsprechende Software nur für die eigenen Computer an. Die Übertragung der Bewegungsanweisungen fand über Lochstreifen statt.[8] Auf dem ER 56 der TH Stuttgart ließ Nake zwischen 1964 und 1965 unter anderem die Serien Geradenscharen, Hommage à Paul Klee, Rechteckschraffuren und Zufälliger Polygonzug mit insgesamt mehr als 100 einzelnen Werken berechnen, welche im November 1965 auf der weltweit dritten Ausstellung von computergenerierter Kunst in der Galerie Wendelin Niedlich gezeigt wurden.[3][8][15] Die Werke sind mit NAKE/ER56/Z64 maschinell signiert.[16]
Spende an Kunstakademie
BearbeitenZwei voll funktionsfähige ER 56, zusammen 25 Tonnen schwer, tauchten Ende 1971 überraschend an der Stuttgarter Kunstakademie auf.[17] Sie waren bei Standard Elektrik Lorenz intern eingesetzt, abgeschrieben und nun an den an der Akademie umstrittenen Gastdozenten Ernst Knepper verschenkt worden, um als Hilfsmittel für Architekten, Designer und Künstler bei der Entwicklung von Modellen zur Umweltplanung zu dienen.[18] Knepper, bereits zuvor im Streit mit der Akademieleitung,[19] hatte auf einen entsprechenden Vorschlag keine Antwort erhalten.[18] Anschließend transportierte er die Bauteile mit geliehenen Lastwagen, Hubstaplern, Flaschenzügen und tatkräftiger Unterstützung von mehreren Freunden über Nacht in die Akademie.[18] Sie wurden in einen Glastrakt gebracht und dort gut sichtbar aufgestellt. Die Aktion wurde von Presse- und Rundfunkvertretern begleitet und es wurde bundesweit darüber berichtet. Die Form der Inszenierung wurde mit Joseph Beuys verglichen.[17]
Innerhalb der Kunstakademie wurde erörtert, ob und wie die Computer betrieben werden könnten.[17] Der Rektor der Akademie, Herbert Hirche, forderte Knepper dazu auf, die unerwünschte Spende wieder abzutransportieren, und erhob schließlich eine Klage wegen Hausfriedensbruchs. Kurz darauf klagte auch das Kultusministerium auf Beseitigung.[18] Knepper räumte die Computer jedoch nicht.[20] Anfang 1975 wurde die Räumung durch die Akademie veranlasst, die Bauteile wurden auf ein Werksgelände des Landes gebracht.[17] Die beiden Computer wurden 1981 versteigert.[17]
Die beiden Rechner hätten die ersten sein können, die an einer Kunstakademie in Lehre und Forschung eingesetzt wurden.[17][21] Die Akademie hätte damit der Slade School of Fine Art am University College London zuvorkommen können, welche 1972 einen Computer erwarb und in Betrieb nahm.[17]
Literatur
Bearbeiten- SEL – Meilensteine der Nachrichtentechnik. Festschrift von 1978, zur 100-Jahr-Feier des Unternehmens
- Das ist die Standard Elektrik Lorenz AG, Publikation des Unternehmens von 1958, zu seiner Gründung durch Fusion von Standard Elektrik und Lorenz
Weblinks
Bearbeiten- Ausführlicher und bebilderter Beitrag im HNF-Blog
- Malende Computer, Vorstellung eines ER 56 in der Sendung Panorama aus dem Jahr 1966
Einzelnachweise
Bearbeiten- ↑ a b c Büro-Automation: Das Hirn. (PDF; 631 kB) Der Spiegel, 3. Mai 1958, abgerufen am 16. Mai 2025.
- ↑ a b c Der verschwundene Computer: SEL ER 56. In: HNF Blog. Heinz Nixdorf MuseumsForum, 19. August 2022, abgerufen am 17. Mai 2025.
- ↑ a b Frank Dietrich: Visual Intelligence: The First Decade of Computer Art (1965–1975). In: Leonardo. Band 19, Nr. 2, 1986, S. 159, doi:10.2307/1578284, JSTOR:1578284.
- ↑ a b c Rolf Basten, Hans-Joachim Dreyer: Der elektronische Rechenautomat ER 56. (PDF; 946 kB) April 1959, abgerufen am 15. August 2020 (SEL-Nachrichten 1959, Heft 4).
- ↑ a b c d H. Härtl: Rechenzentrum SEL Stuttgart. In: H. Härtl, E. Dachtler, K. Köberle, T. Lutz, G. Jung (Hrsg.): SEL-Nachrichten. Band 10, Nr. 1. Standard Elektrik Lorenz, Stuttgart 1962, S. 3–6 (archive.org [PDF]).
- ↑ a b W. de Beauclair: Rechnen mit Maschinen. Vieweg, Braunschweig 1968 (archive.org [abgerufen am 17. Mai 2025]).
- ↑ Rolf Basten: Der elektronische Rechenautomat ER 56. In: it - Information Technology. Band 1, Nr. 1-4, 1. Dezember 1959, ISSN 2196-7032, S. 60–67, doi:10.1524/itit.1959.1.14.60 (degruyterbrill.com [abgerufen am 17. Mai 2025]).
- ↑ a b c d e Michael Rottmann: Programm und Diagramm. Überlegungen zum digitalen Bild und zur Automatisierung anhand der Computergrafik der 1960er Jahre von Frieder Nake. In: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal. 7. Dezember 2021, urn:nbn:de:bvb:355-kuge-589-3 (kunstgeschichte-ejournal.net [abgerufen am 17. Mai 2025]).
- ↑ a b A. Schönhage: ER 56-Addressierprogramm SYMBOL. Recheninstitut der Technischen Hochschule Stuttgart, Stuttgart Mai 1964 (rptu.de [PDF]).
- ↑ Patent DE1070427B: Rechnende, mit magnetischen Ein- und Ausspeicherungen arbeitende Buchungseinrichtung zur selbsttätigen Verarbeitung von Eingabedaten zur Erfassung von Lagerbeständen und -bewegungen (Zu- und Abgänge) sowie zur gleichzeitigen Auftragsbearbeitung durch selbsttätiges Erstellen von Rechnungszetteln und Materialentnahmescheinen. Angemeldet am 8. Mai 1957, veröffentlicht am 3. Dezember 1959, Anmelder: Gustav Schickedanz, Erfinder: Georg Kramm.
- ↑ a b Detlef Borchers: Versandhaus Quelle: Am Anfang war ein großer Fluss. In: c’t Magazin. 19. Dezember 2009 (heise.de).
- ↑ a b Standard Elektrik Lorenz AG (Hrsg.): Elektronischer Rechenautomat ER 56. Band 61, Nr. 4. Stuttgart 1961 (rptu.de [PDF]).
- ↑ Karl Steinbuch, Wolfgang Weber: Taschenbuch der Informatik, Band I: Grundlagen der technischen Informatik, Dritte neubearbeitete Auflage, Springer-Verlag 1974, S. 33 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche)
- ↑ Juan Álvarez, Claudio Gutiérrez: El primer computador universitario en Chile. In: Revista BITS de Ciencia. Nr. 9. Departamento de Ciencias de la Computación, Santiago de Chile 2012, S. 2–13 (spanisch, uchile.cl [PDF]).
- ↑ compArt ER56. In: DAM. Digital Art Museum, 24. September 2020, abgerufen am 4. Juli 2025 (amerikanisches Englisch).
- ↑ Frieder Nake, Hommage à Paul Klee, 13/9/65 Nr.2, 1965. Gazelli Art House, London, UK, abgerufen am 4. Juli 2025 (englisch).
- ↑ a b c d e f g Hans Dieter Huber: Verschüttet, vergessen und wiederentdeckt. Neue Medien an der Akademie. In: Nils Büttner, Angela Ziegler (Hrsg.): Rücksichten: 250 Jahre Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Stuttgart 2011, S. 320–327, doi:10.11588/artdok.00006031, urn:nbn:de:bsz:16-artdok-60315.
- ↑ a b c d Lästiger Rechner. In: Der Spiegel. 2. Januar 1972, ISSN 2195-1349 (spiegel.de [abgerufen am 16. Mai 2025]).
- ↑ Karin Zeller: Knepper kämpft. In: Die Zeit. Nr. 51, 18. Dezember 1970, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 4. Juli 2025]).
- ↑ »Neugier war mein Job« Landespolitik und Zeitgeschehen in Pressebildern von Burghard Hüdig. Landesarchiv Baden-Württemberg, abgerufen am 6. Juli 2025 (Abschnitt VII).
- ↑ Ernst Knepper. In: Database of Digital Art. Frieder Nake, abgerufen am 4. Juli 2025 (englisch).