Diyanet İşleri Başkanlığı

staatliches Amt zur Verwaltung religiöser Angelegenheiten der Republik Türkei
Diyanet İşleri Başkanlığı
Emblem
Gründung 3. März 1924
Hauptsitz Ankara
Behördenleitung Ali Erbaş
Haushaltsvolumen 1.998.412.595 TL (2008)
Website www.diyanet.gov.tr

Das Diyanet İşleri Başkanlığı (deutsch Präsidium für Religionsangelegenheiten), abgekürzt mit Diyanet, ist eine staatliche Einrichtung zur Verwaltung religiöser Angelegenheiten in der Türkei. Das Diyanet ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Es wurde als eine dem Premierminister der Republik Türkei angegliederte Organisation mit dem Gesetz Nr. 429 auf Anordnung von Mustafa Kemal Atatürk gegründet. Die Behörde hatte im Jahre 2015 mehr als 100.000 Mitarbeiter und einen Jahresetat von umgerechnet mehr als einer Milliarde Euro.[1]

Das Diyanet ist die Nachfolgeinstitution des Schaich al-Islām-Amtes des Osmanischen Reiches. Die Behörde ist somit die höchste religiöse Instanz des Landes. Der Behördenleiter, zugleich Präsident des Diyanet, hat hierdurch den Rang des höchsten islamischen Gelehrten der Türkei inne und stellt somit aus staatlicher Sicht, welche in gleicher Weise vom überwiegenden Teil der Bevölkerung anerkannt wird, die oberste islamische Autorität des Landes dar.

Die Ahmet-Hamdi-Akseki-Moschee in Ankara, Hauptquartier des Präsidiums

Historischer Kontext Bearbeiten

Laizistische Republik Bearbeiten

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg sollte die Türkei unter mehreren Besatzungsmächten aufgeteilt werden. Das wurde durch den türkischen Befreiungskrieg verhindert, den Mustafa Kemal anführte. Nach dem Sieg wurde am 29. Oktober 1923 die türkische Republik ausgerufen.

Nach dem Willen und der Vision von Mustafa Kemal (später Atatürk genannt) sollte sich die Türkei am Westen orientieren und so zu einem modernen Nationalstaat entwickeln. Im Laufe seiner Amtszeit führte Atatürk tiefgreifende Reformen im politischen und gesellschaftlichen System durch, um diese Vision zu erreichen. Unter anderem wurde im Jahre 1922, noch vor der Ausrufung der Republik, das Sultanat abgeschafft und am 3. März 1924 das Kalifat. 1924 beseitigte die Türkei mit der Abschaffung des Amtes des Scheichülislam auch die religiösen Gerichte, und 1925 wurde im Zuge einer umfassenden „Kleiderreform“ der Fes und der Schleier verboten und die Koedukation eingeführt. Im selben Jahr wurde die islamische Zeitrechnung durch den Gregorianischen Kalender ersetzt sowie das metrische System eingeführt.

In den folgenden Jahren wurden ganze Rechtssysteme aus europäischen Ländern übernommen und den türkischen Verhältnissen angepasst. 1928 wurde die osmanische Schrift durch die lateinische ersetzt. 1930 wurde das aktive Frauenwahlrecht eingeführt – seit 1934 dürfen sich Frauen auch selbst zur Wahl stellen (passives Frauenwahlrecht). Nur wenige der Reformen, etwa Atatürks Idee, dass in den Moscheen statt auf Arabisch nur noch auf Türkisch gebetet werden sollte, erwiesen sich als undurchführbar und wurden zurückgenommen.

Laizisierung Bearbeiten

Trotz aller Versuche, die Bedeutung der Religionen in der Türkei für die Gesellschaft auf der Laienebene zu schwächen, blieb der Glaube ein wichtiger Bestandteil der türkischen Gesellschaft. Die Gefahr stieg sogar, dass die Religion durch Kreise instrumentalisiert werden könnte, auf die der Staat keinen Einfluss hatte. Daher wurde 1924 das Amt für Religiöse Angelegenheiten gegründet. Mit dieser Institution wollte der Staat die Religion kontrollieren. Daher ist die türkische Form des Laizismus keine Trennung zwischen Staat und Religion, sondern vielmehr eine Unterordnung der Religion unter den Staat.

Aufbau Bearbeiten

Das Diyanet wurde am 3. März 1924 entsprechend Gesetz Nr. 429 gegründet und untersteht dem Präsidenten der Republik Türkei. Bis Juli 2018 war es dem Ministerpräsidentenamt angegliedert. Die Moscheen des Landes und die dort tätigen Imame sind als Beamte weisungsgebunden.

Das Diyanet in Ankara hat folgende Hauptabteilungen: Religiöse Dienste (Din Hizmet Dairesi), Religiöse Erziehung (Din Eğitim Dairesi), Wallfahrtswesen (Hac Dairesi), Religiöse Publikationen (Dinî Yayınlar Dairesi) und Außenbeziehungen (Dış İlişkiler Dairesi). In den Provinzen der Türkei ist das Amt mit dem sogenannten Müftülük, dem „Amt des Muftis“, vertreten.

Von 1992 bis 2003 war Diyanet-Präsident Mehmet Nuri Yılmaz, der in seinem Amt im Wesentlichen die kemalistische Staatsdoktrin tradiert hatte.[2] Ihm folgte ab Mai 2003 der als liberal geltende Ali Bardakoğlu. Nach dessen Rücktritt im November 2010 übernahm das Amt sein Stellvertreter Mehmet Görmez.[3] Nach dem Amtsverzicht von Mehmet Görmez im Jahr 2017 übernahm Ali Erbaş das Amt des Diyanet-Präsidenten. Im März 2018 wurde mit der Theologieprofessorin Huriye Martı erstmals eine Frau zur Vizepräsidentin ernannt.[4]

Aufgaben Bearbeiten

Im Jahr 2007 beschäftigte das DİB 84.195[5] Menschen, darunter waren 60.641[6] Imame. Es ist für 79.096[7] (2007) Moscheen im Lande verantwortlich und für diejenigen Moscheen im Ausland, die zur DITIB gehören. Außerhalb der Türkei ist das DİB für 1805[8] Moscheen zuständig.

Das Diyanet ist für die Ausrichtung der Korankurse zuständig. Es verfasst die Freitagspredigten, entsendet Prediger, Imame und Muezzine an die Moscheen und unterhält die Gotteshäuser.

Die Mehrheit der Aleviten fühlt sich durch das Diyanet nicht vertreten, da das Amt nur den orthodox-sunnitischen Islam unterstützt und lehrt.

Das Diyanet vertrat lange Zeit eine vergleichsweise „gemäßigte“ Islam- und Koran-Auslegung – so wurden unter anderem im März 2005 zwei Frauen als Vize-Mufti in Kayseri und Istanbul ernannt. In jüngerer Zeit machte das Diyanet aber auch immer wieder durch sehr konservative Islam- und Koran-Auslegungen von sich reden. So sorgte Anfang 2016 eine Fatwa in der Türkei für Diskussionsstoff, in der das Diyanet Verlobten vorschreibt, wie sie sich in der Öffentlichkeit zu verhalten haben. Flirten, das Zusammenleben, ohne verheiratet zu sein, oder als Paar unbeobachtet zu sein fördere nach diesem islamischen Rechtsgutachten angeblich Tratsch und Gerüchte. Auch das Händchenhalten in der Öffentlichkeit gehöre zu den Dingen, die sich nicht mit dem Islam vereinbaren ließen.[9] Ein von der Diyanet herausgegebener Kinder-Comic, in dem das religiös motivierte Märtyrertum verherrlicht wird, sorgte im März 2016 in der Türkei ebenfalls für Diskussionen und heftige Kritik.[10]

Aufgaben im Ausland Bearbeiten

Das Diyanet İşleri Başkanlığı ist außerhalb der Türkei über Kooperationspartner tätig. Die Religionsbehörde entsendet Räte (müşavir) und Attachés an Botschaften und Konsulate, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland.

Zur Stärkung der Verbindungen zu den zentralasiatischen Turkstaaten betreibt das DİB islamische Kulturpolitik in den Staaten Aserbaidschan, Turkmenistan, Kasachstan und Usbekistan.

Deutschland Bearbeiten

Es unterhält in Deutschland eine eigene Niederlassung: die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB bzw. DİTİB), der laut eigenen Angaben bundesweit rund 900 Moscheegemeinden beaufsichtigt.[11]

Niederlande Bearbeiten

Das Diyanet gründete 1982 in den Niederlanden eine Eigene Organisation. Von die 475 Moscheen, die es 2018 in den Niederlanden gab, wurden von Diyanet 146 kontrolliert.[12]

Schweiz Bearbeiten

In der Schweiz besteht die „İsviçre Türk Diyanet Vakfı“ (ITDV, bzw. İTDV), auf deutsch: „Türkisch Islamische Stiftung für die Schweiz“ TISS.[13]

Österreich Bearbeiten

In Österreich ist es die „Türkisch-islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich“ (ATIB, bzw. ATİB).[14]

Beispiele Bearbeiten

  • Im Januar 2007 beschloss das Diyanet, 2.500 Personen in den Osten und Südosten der Türkei zu entsenden. Diese sollen als „Teams für Rechtleitung und Predigten“ (Vaaz ve İrşat’ Timleri) den Einfluss der kurdischen Hizbullah und der PKK eindämmen (vgl. Hürriyet vom 10. Januar 2007).
  • Im März 2007 erklärte das Amt in einer Fatwa Organspenden für mit dem islamischen Recht vereinbar. Organspender würden ihre Organe im Jenseits wieder zurückerhalten (vgl. Hürriyet vom 8. März 2007).
  • Durch eine in Auftrag gegebene Fatwa ließ Diyanet 2008 feststellen, dass eine Abkehr vom Islam hin zu einer anderen Religion ausdrücklich erlaubt sei.[15] Der Religionswechsel sei nur erlaubt, wenn der Übertritt Ausdruck einer persönlichen Präferenz sei und nicht den Boden bereite für eine Auflehnung gegen den Islam oder die rechtmäßige Ordnung. Die Todesstrafe sei dann gerechtfertigt, wenn der Apostat gegen den Islam Krieg führe. Missionierungsbestrebungen („Propaganda“) betrachtet die Behörde ausdrücklich als Teil der Kriegsführung.[16]
  • Auch sehr konservative Ansichten der Behörde wurden 2008 bekannt.[17] So wird in einem vom Amt herausgegebenen Leitfaden für das gute und vorbildliche Leben der muslimischen Frau die Ansicht vertreten, dass Flirten Ehebruch sei und der Kontakt mit fremden Männern generell vermieden werden müsse. Auch der Gebrauch von Parfüm außerhalb des eigenen Hauses sei eine Sünde. Frauen und Männer am selben Arbeitsplatz seien eine besonders große Gefahr für die Gesellschaft. Dieser Leitfaden wurde von der türkischen Tageszeitung Radikal und liberalen Kreisen in der Türkei heftig kritisiert.[18]
  • Eine Fatwa der Religionsbehörde im Jahre 2015 will Verlobten vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. Demnach gehöre das Händchenhalten in der Öffentlichkeit zu den Dingen, die sich nicht mit dem Islam vereinbaren ließen.[1]
  • 2016 berichtete der Stern über einen Comic für Kinder, in welchem das Sterben als Märtyrer verherrlicht wird.[19]

Literatur Bearbeiten

  • Lutz Berger: Religionsbehörde und Millî Görüş. Zwei Varianten eines traditionalistischen Islam in der Türkei. In: Rüdiger Lohlker (Hrsg.): Hadithstudien. Die Überlieferungen des Propheten im Gespräch. Festschrift für Tilman Nagel. Hamburg 2009, S. 41–76 (ausführliche Darstellung der theologischen und islamrechtlichen Positionen der Religionsbehörde).
  • Erman, Tahire; Göker, Emrah: Alevi Politics in Contemporary Turkey, in: Middle Eastern Studies Band 36, Nr. 4, 2000.
  • Göztepe, Ece: Die Kopftuchdebatte in der Türkei. Eine kritische Bestandsaufnahme für die deutsche Diskussion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin 2004
  • Krisztina Kehl-Bodrogi: Vom revolutionären Klassenkampf zum „wahren“ Islam. Transformationsprozesse im Alevitentum der Türkei nach 1980. Verlag Das Arabische Buch, Berlin 1992.
  • Seufert, Günther: Staat und Islam in der Türkei, Studie der Stiftung für Wissenschaft und Politik, Berlin 2004
  • Steinbach, Udo: Islam in der Türkei. Wissenswertes über Laizismus, Religiosität und Hauptvarianten des Islam, in: Informationen zur politischen Bildung, Heft 277, 4. Quartal, Berlin 2002.
  • Tezcan, Levent: Religiöse Strategien der machbaren Gesellschaft. Verwaltete Religion und islamistische Utopie in der Türkei, Bielefeld 2003.
  • Tröndle, Dirk: Die Debatte um den Islam und seine Institutionalisierung in der Türkei, in: Zeitschrift für Türkeistudien, 14. Jg. 2001, Heft 1+2.
  • Tröndle, Dirk: Die Freitagspredigten (hutbe) des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet İşleri Başkanlığı) in der Türkei – Seelsorge, religiöse Dienstleistung oder Instrumentalisierung der Religion, in: KAS / Auslandsinformationen 4/06, Berlin 2006
  • Vorhoff, Karin: „Let’s Reclaim Our History and Culture!“ – Imagining Alevi Community in Contemporary Turkey, in: Die Welt des Islams. Band 38, Nr. 2, Leiden 1998.

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b Fatwa in der Türkei: Flirten verboten, Spiegel Online 5. Januar 2016
  2. Ali Bardakoglu: Modern FAZ, 29. Februar 2004
  3. Jürgen Gottschlich: Chef über 80.000 Moscheen: Religionsamt-Chef tritt zurück., taz, 11. November 2010.
  4. Luisa Seeling: Ein bisschen weiblicher. In: sueddeutsche.de. 15. März 2018, abgerufen am 16. März 2018.
  5. Anzahl der Beschäftigten für die Jahre 1998–2007 (Memento vom 6. Dezember 2010 im Internet Archive) (MS Excel; 26 kB), Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Memento vom 24. Juni 2009 im Internet Archive), abgerufen am 29. Juni 2008
  6. Anzahl der Beschäftigten nach Beschäftigungsart (detailliert) (Memento vom 10. Oktober 2010 im Internet Archive) (MS Excel; 45 kB), Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Memento vom 24. Juni 2009 im Internet Archive), abgerufen am 29. Juni 2008
  7. Anzahl der Moscheen (Memento vom 6. Dezember 2010 im Internet Archive) (MS Excel; 26 kB), Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Memento vom 24. Juni 2009 im Internet Archive), abgerufen am 29. Juni 2008
  8. Anzahl der Moscheen im Ausland (Memento des Originals vom 24. Juni 2009 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.diyanet.gov.tr, Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Memento vom 24. Juni 2009 im Internet Archive), abgerufen am 29. Juni 2008
  9. Fatwa in der Türkei: Flirten verboten. In: Spiegel Online. Abgerufen am 27. April 2016.
  10. Türkei: Religionshüter animieren Kinder per Comic zum Märtyrertod. In: stern.de. Abgerufen am 27. April 2016.
  11. „Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V.“ (DITIB)
  12. Semiha Sözeri, Ahmet Erdi Öztürk: Diyanet as a Turkish Foreign Policy Tool: Evidence from the Netherlands and Bulgaria. In: Politics and Religion. Band 11, Nr. 03, ISSN 1755-0483, S. 624–648 (pdf: 12) (academia.edu [abgerufen am 14. April 2019]).
  13. „Türkisch Islamische Stiftung für die Schweiz“ (TISS)
  14. „Türkisch-Islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich“ (ATIB)
  15. Religionsamt erlaubt Übertritt vom Islam, Der Standard 2. Mai 2008. Abgerufen am 23. September 2011
  16. Archivlink (Memento vom 18. September 2011 im Internet Archive)
  17. "Berger: Religionsbehörde".
  18. ISLAM IN DER TÜRKEI: Wenn Frauen besondere Reize aussenden, Spiegel Online 1. Juni 2008
  19. Türkische Behörde animiert Kinder zum Märtyrertod Stern Online, 1. April 2016