Der NPOV (neutral point of view, neutraler Standpunkt) ist Dreh- und Angelpunkt der Wikipedia. Der Gedanke der Wikipedia "beginnt" mit dem Wunsch, eine weltweit offene Enzyklopädie als Gemeinschaftswerk zu schreiben. Daher sollen Ideen und Fakten in einer Weise beschrieben werden, der sowohl deren Anhänger als auch deren Gegner zustimmen können. Wenn das nicht gelingt, finden edit wars statt. Dann wurde entweder eine für Anhänger und Gegner verträgliche Formulierung nicht gefunden oder, was auch vorkommt, eine solche verträgliche Formulierung abgelehnt.

Wie entstehen Formulierungen, denen mehrere Seiten zustimmen können? Die Darstellung soll ohne Voreingenommenheit (bias) sein, obwohl jeder voreingenommen ist, indem er eine eigene Sichtweise (point of view) oder einen Standpunkt hat. Ohne Voreingenommenheit zu schreiben ist möglich, wenn man eine Sichtweise nicht vertritt, sondern sie charakterisiert. Dazu muß man einen Schritt zurücktreten, einen Beobachter 2. Ordnung (GS) sprechen lassen. Dieser stellt nicht fest, daß etwas objektiv so ist, sondern daß eine Anzahl Menschen sagt, daß es so ist. Er vertritt nicht einen Standpunkt, sondern den neutralen Standpunkt. Der Begriff ist paradox, weil er sagt, daß man keinen Standpunkt einnehmen, sondern die bedeutenden Standpunkte zu einem Thema und deren Verhältnis zueinander, die Auseinandersetzung (dispute), darstellen soll. Wenn das nicht gelingt, wird etwas als gültig und etwas anderes als nicht gültig behauptet, eine relevante Sichtweise nicht angemessen berücksichtigt und daher Anlaß zum edit war gegeben.

Wenn es gelingt, wächst die Wikipedia durch das Einarbeiten von POVs (points of view). Einen POV zu haben ist kein Verbrechen, jeder hat ihn. Wenn jemand einen POV äußert, berechtigt das nicht zum Löschen seiner Aussage, sondern wenn es sich nicht um eine extrem kleine Minderheit handelt (extremely small (or vastly limited) minority, Zit.), geht es darum, alle POVs einzuschließen und sie ihren Vertretern zuzuordnen. (Wikipedia seeks a neutral point of view by including all relevant POVs while explicitly attributing them to those who hold them, Zit.) Und sie wächst dadurch, daß man die POVs aufeinander bezieht und zeigt, wie sie miteinander streiten.

Wo liegen die Grenzen der neutralen Darstellung, die Gründe für ihr Mißlingen?

Ein Grund ist die Durchsetzung anderer Maßstäbe, oft unter Bezug auf die Behauptung "So ist es". Dazu werden einzelne points of view mit dem NPOV verwechselt oder identifiziert. Besonders leicht geschieht das mit dem wissenschaftlichen Standpunkt, der sich als neutral und objektiv versteht und der seine Erkenntnisse zumindest in seiner populären Form als Fakten versteht. Besonders wenn sie einer Sichtweise gegenübersteht, die wissenschaftlich nicht widerlegbar oder nicht bewiesen ist, fällt es schwer, die wissenschaftliche Sicht nicht als objektiv, neutral, mit den Fakten übereinstimmend, und die andere Sicht nicht als subjektiv, nicht neutral, als faktisch unzutreffend darzustellen. Die wissenschaftliche Sicht tritt dann in Konkurrenz zur neutralen Sicht.

Dadurch wandelt sich die "Ethik" der Wikipedia in ihr Gegenteil: Der neutrale Standpunkt ist nicht mehr paradox, sondern identifizierbar. Der "POV" ist nicht mehr zu integrieren, sondern auszugrenzen, weil er den einen, vermeintlich neutralen Standpunkt infragestellt. Es werden Regeln darüber aufgestellt, wer die ausreichende Relevanz einer Sichtweise bestimmt. Die Beliebigkeit eines Nebeneinanders verschiedener Sichtweisen wird abgelehnt. Eine Sichtweise wird als "die neutrale" oder gar "die neutralste" bezeichnet.

Die originale Darstellung des NPOV unterscheidet redlicherweise zwischen knowledge und science. Ziel der Wikipedia ist die Repräsentation von Wissen im Sinn von knowledge. Dabei hat sie die wesentlichen, bedeutenden Standpunkte oder Sichtweisen darzustellen. Der sogenannte scientific point of view ist eine dieser Sichtweisen. So einfach das zu erkennen ist, so offensichtlich und absichtlich wird es ignoriert. Wer hat Angst vor der Suggestion durch das, was manche als ihr Wissen verstehen, andere aber als Pseudowissen bezeichnen?

Neben dem Schein des Faktischen kann auch die political correctness, d.h. die Tabuisierung eines Gegenstandpunktes zu einer Verkehrung der Wikipedia-Prinzipien führen.

Eine dritte, aktuelle Gefahr ist die Durchsetzung der kulturellen Voreingenommenheit. Wer kann in Bezug auf Terrorismus und das, woraus er entsteht, noch von einem point of view sprechen? Ist ein Terrorist ein Terrorist oder ist er nur aus einer bestimmten Sicht ein Terrorist? Kann er aus bestimmten Sichtweisen kein Terrorist, sondern ein Freiheitskämpfer sein? Relativiert man das Böse, wenn man es als Bewertung einem bestimmten Standort zuordnet? Muß ein Artikel über die Hamas oder die (al) Qaida auch deren Sichtweise darstellen, oder auch die Sichtweise derer, die diese wählen oder finanziell unterstützen? Nach NPOV-Prinzipien ganz klar: Ja. Und zwar ohne bias, ohne implizite Bewertung. Wie soll ich etwas über die heutige Entwicklung in der Welt begreifen, wenn ich nicht auch deren Sicht einnehmen kann? Die Mehrheit ist sich aber einig: Sie will nichts begreifen, sie will ihre Sicht als die einzige durchsetzen und ihre Gegner als die Bösen etikettieren. Nichts dagegen, zu sagen, daß sie enorm gefährlich sind. Aber alles dagegen, daß die Etikettierung die Unterscheidung von sich und das Begreifen einer Entwicklung verhindert. Man weigert sich damit auch zu begreifen, daß diese Unfähigkeit das Ende dieser Zivilisation nicht aufhält, sondern sich mit Gewalt vollziehen läßt. So hat man wenigstens einen Gegner, dem man die Schuld daran zuschieben kann.

In der Wikipedia wirkt gegen den NPOV erst das, was gemeinschaftlich durchgesetzt wird. Die Basis dafür ist eine gemeinsame Unfähigkeit oder Unwilligkeit, sich von sich zu unterscheiden. Ein Bild dafür ist der Clan. Der Widerstand, den eine gemeinsam gegen die Regeln und eigenen Ansprüche, gegen die Unterscheidungsfähigkeit durchgesetzte Formulierung hervorruft, ähnelt dem Terrorismus. Sturheit ruft Sturheit hervor, die Standpunkte verhärten, und das Schlimmste: Ein Sich-Entfernen vom eigenen Standpunkt wird als Verrat bezeichnet. Die Identifikation von Meinung und Wissen wird zur Norm. Orwell läßt grüßen.

Kurioserweise führt die Durchsetzung einer einseitigen Sicht nicht dazu, daß die Wikipedia an Klarheit gewinnen würde. Wer wirklich an einem Thema interessiert ist, spürt die einseitige Darstellung und findet andere Informationsquellen. Problematisch ist aber die Dominanz solcher Sichtweisen an einem prominenten Ort, und daß diese den Wikipedia-Prinzipien ganz offensichtlich widerspricht, ohne sanktioniert zu werden.




Der Inhalt der Wikipedia ist nicht deshalb interessant, weil man ihn für bare Münze nehmen und als gesammeltes Wissen (im Sinn von knowledge) lesen kann. Solange die Beteiligten nicht mit dem NPOV vertraut sind, stellt die Wikipedia eine gefährliche Mischung aus Wissensrepräsentation und Meinungsmache dar. Sie ist dann leider nur ein Symptom, ein Zeichen für das, was anstelle der möglichen, umfassenden Repräsentation von Wissen entsteht, wenn Menschen mit einem bestimmten Weltbild sich dazu berufen fühlen, diese Wissensrepräsentation zu ordnen und zu begrenzen bzw. von, Zitat: "'Arten von Wissen' die in der Realität kein Wissen sind" zu säubern. Diplomatie und Ausgewogenheit setzt sich schwer durch gegen diejenigen, die berufen sind, die Wikipedia vor dem zu bewahren, was "kein Wissen ist".




Presse: Zitat des Perlentauchers vom 07.12.2005 zum Feuilleton der Süddeutschen: Bernd Graf informiert über die "Entzauberung" der Online-Enzyklopädie Wikipedia durch schlechte, falsche und "blamable" Eintragungen, von denen man inzwischen weiß, dass "gerade bei historischen oder politischen Inhalten (...) regelrechte Grabenkämpfe um die Formulierungen toben. Link zum Artikel.

Zitat aus Diskussion:Chronologiekritik: Spötter nennen Wikipedia ja die "Enzyklopädie des Halbwissens". Warum stimmt das?

Ein Nature-Artikel bezieht sich in seiner Kritik richtigerweise auf die science entries der Wikipedia. Wissenschaftler können ihr Fachgebiet besser von anderen unterscheiden als manche Wikipedianer, die sich auf die Wissenschaft berufen. Ist der Artikel über Homöopathie ein science entry?

Alle Forscher lügen, meistens, ist zwar ein zu reißerischer Titel, aber der Abschnitt über Konsens statt Realismus zeigt, wie wissenschaftliche Artikel und damit auch der Stand der Wissenschaft nicht den tatsächlichen Verlauf der Forschung, sondern die zur Erzielung eines Konsens besten Argumente abbilden. Im Gegenteil zu den Arzneimittelprüfungen der Homöopathen des 19. Jahrhunderts.

Ein Artikel über die Wikipedia im New Yorker, beim Perlentaucher hier gefunden: "Wikipedia remains a lumpy work in progress. The entries can read as though they had been written by a seventh grader: clarity and concision are lacking; the facts may be sturdy, but the connective tissue is either anemic or absent; and citation is hit or miss." "Wikipedia offers endless opportunities for self-expression." "Your truth or mine?"

Jaron Lanier sagt dazu am 13.11.2006 im Spiegel: "In der Wikipedia-Welt bestimmen jene die Wahrheit, die am stärksten besessen sind. Dahinter steckt der Narzissmus all dieser kleinen Jungs, die der Welt ihren Stempel aufdrücken wollen, ihre Initialen an die Mauer sprayen, aber gleichzeitig zu feige sind, ihr Gesicht zu zeigen." "Mir graut vor der Vorstellung, in 15 oder 20 Jahren könnte Erziehung auf dem Wikipedia-Prinzip beruhen: Man ermittelt den Durchschnitt von Meinungen." (meine Hervorhebung)




Die Stimmen der anderen:

"Schönwetter ödet mich an. der typ ist schlimmer als Scholl-Latour. [...]" (Baruch ben Alexander) Quelle

Tatsächlich ist mir die ideologiefreie Kenntnis aus Erfahrung lieber als die politisch konsensfähige Fehleinschätzung. Darum hier ein aktuelles Interview mit Scholl-Latour. Und noch ein Artikel von ihm und noch einer. Wie will ein Meinungsdurchschnitt zu solchen Aussagen kommen? Der NPOV müßte ihn zur Sprache kommen lassen, aber wen interessiert das?




Notizbuch: Zufälliger Artikel, Ikonophobie




Wikipedia ist eine grandiose Zeitverschwendung, wenn die Einsicht in ihre Prinzipien größer ist als die Macht, sie durchzusetzen. Sie ist ein Banausenwerk, wenn die Einsicht in ihre Prinzipien geringer ist als die Macht, diesen Mangel an Einsicht darzustellen. Sie wird nur dann zur Enzyklopädie, wenn die Einsicht in ihre Prinzipien mit der Macht einhergeht, diese zu verwirklichen. (Quelle: original research)




Zur stoischen Sanftmuth:

"Wer hat den Schaden?

XLII. Wenn dich jemand schlimm behandelt, oder Schlimmes von dir redet, so bedenke, daß er es thut oder redet in der Meinung, er sei im Recht. Es ist nun nicht möglich, daß er dem folge, was du für richtig hältst, sondern dem, was er dafür hält. Wenn nun seine Meinung falsch ist, so hat er den Schaden, sofern er sich in einer Täuschung befindet. Denn wenn einer eine richtige Satzverbindung für falsch hält, so schadet dies der Satzverbindung nichts, sondern dem, welcher sich geirrt hat. Davon ausgehend wirst du dich gegen den Lästerer sanftmüthig betragen. Denke nur jedesmal: er war der Meinung u.s.w."

Epiktet: Handbüchlein der stoischen Moral, Übersetzung durch Carl Conz von 1864, 48




Beitrag zur Diskussion über die Löschung eines Artikels. Gelöscht von Nina mit folgendem Kommentar: [1]

Warum besprecht Ihr hier die Frage der spezifischen Wirksamkeit, wenn es darum geht, ob zu einem Begriff ein Lemma existieren darf oder nicht? Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, auch wenn Nina und RW es ständig behaupten. Wenn ein Akupunkturpunkt seit etlichen Jahren benannt ist, in x Lehrbüchern steht und von x Ärzten und Heilpraktikern gelernt und angewandt wird, verdient er einen Artikel, genauso wie jedes Dorf in WP einen Artikel hat. Die Frage nach einer empirisch nachgewiesenen Wirksamkeit dieses Punktes gehört nicht hierher, sondern in den Artikel, und zwar soll die Diskussion, die es unter Fachleuten dazu gibt, dort neutral und objektiv wiedergegeben werden, nicht hier als Schlammschlacht ausgelebt. Allein diese Diskussion zeigt, dass das Thema einen Artikel verdient, nur die Neutralität fehlt noch. Und der Artikel fehlt. Wenn Nina die Löschdiskussion "abarbeitet", obwohl sie inhaltlich enorm voreingenommen ist, was jeder weiss, kann man an einen Missbrauch von Administratorrechten denken. Ob der vorliegt, sollen andere entscheiden. Ausserdem empfehle ich einen Wiederherstellungsantrag. Das Verschwindenlassen verhasster Themen hat mit WP-Prinzipien nichts zu tun. Erinnert an diesen schönen Edit. Guten Abend. Schönwetter 17:21, 3. Jan. 2008 (CET)




Die Wissenschaft selbst hat keinen Standpunkt, sie ist Methode. (Kritisch gesagt kann sie ihr Tun dahinter maskieren, weil sie kein Gesicht hat.) Aber: WP will ja nicht beschreiben, was Wissenschaft macht, sondern was die wissenschaftliche Gemeinschaft derzeit mehrheitlich als Fakt, Erkenntnis oder wahre Aussage akzeptiert. Hier gibt es eine Gruppe und eine Aussage dieser Gruppe, also einen Standpunkt. Oder möchtest Du behaupten, diese Gruppe gäbe es nicht mal? Irgendwer muss ja sagen was "die Wissenschaft" als "Fakt" erkannt hat, und man bezieht sich doch generell auf die vorherrschende Meinung in ihr, wesentlich durch die in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannten, publizierten Ergebnisse wissenschaftlicher Studien. "Gemäß der medizinischen Wissenschaft" wäre für mich eine legitime Abkürzung für "gemäss dem aktuellen Stand der von der Mehrheit der medizinischen Wissenschaftler der westlichen Welt akzeptierten, in ihren Fachzeitschriften publizierten Ergebnisse wissenschaftlicher Studien."

Daneben gibt es u.a. das Tun und Denken der Homöopathen. Letzteres bewegt sich z.T. ausserhalb, z.T. im Widerspruch, z. geringen T. bestätigt durch das Tun der Wissenschaft. Man kann es respektvoll und sachlich beschreiben, z.B. in meinem Mustersatz "2. Homöopathen nennen ihre Erfahrungen und zahlreiche Fallbeispiele als Nachweise dafür, dass das Ähnlichkeitsgesetz funktioniert." Das ist eine wahre, überprüfbare Aussage (wahr ist: Homöopathen nennen, nicht: funktioniert), die beschreibt, was Homöopathen denken, aber in keiner Weise relativiert, wie es wissenschaftlich beurteilt wird. Der Streit kann nur dadurch beendet werden, dass alles wesentliche Gesagte in den Artikel kommt. Ist es nicht hanebüchen, dass nicht erwähnt werden soll, dass Homöopathen etwas Bestimmtes sagen, weil das Gesagte nicht mit der Wissenschaft konform geht? Die Skeptiker arbeiten nicht an der adäquaten Darstellung der Sache, sondern an der Vermischung der Überprüfbarkeit des Gesagten (verifiability) mit dem Wahrheitsgehalt des Gesagten (truth), genauso wie an der Vermischung von knowledge und science.