WikiCon-Präsentation vom 18. September 2015
(Originalfolien mit gerafftem Kommentar)




Das Denkmal steht schon – allzu früh und lange vor dem Wikipedia-Reifestadium?
Immerhin ein famoses Programm:

  • in gemeinnütziger Absicht gemeinsam erstellt und getragen,
  • im weltweiten Netz kostenfrei verfügbar für alle Wissensdurstigen oder Wissensbedürftigen,
  • auf Optimierung gerichtet und auf der Höhe der Zeit,

…ein offenbar ein beeindruckender Katapultstart!

Als Wikipedianer dürfen wir uns in der Nachfolge der Aufklärer um Diderot unser Plätzchen suchen.
Doch sind wir zugleich darauf angewiesen, dass genügend gleichartig motivierte Menschen mittun,
damit es nicht beim bisherigen Stückwerk bleibt.

Denn Stückwerk ist die Wikipedia trotz aller frühen Erfolge,
gelungenen Nachbesserungen und sehenswerten Ausstellungsstücke nach wie vor.
Und auf manchen Feldern und in vielen Untiefen ist sie leider noch gar nicht hübsch anzusehen.
Unvollendet wird sie auf der nach vorn offenen Zeitschiene auch bleiben.

Vom Denkmal kommend nun zu den Mühen der Ebene und zu den Akteuren:
Es geht um den Versuch einer aktuelle Kursbestimmung auf gewohnt hoher See,
unter Einschaltung von Erfahrungen aus jenem Wikipedianer-Club, der in Jahrzehnten zählt.



Denn beim perspektivischen Blick auf die Zukunft des Projekts
darf man Probleme der Vergangenheit und Gegenwart nicht außer Acht lassen,
will man nicht übergangslos im Wolkenkuckucksheim landen.



Nostalgische Bilder aus früheren Zeiten mögen teils vor Augen stehen,
wenn gegenwärtiges Wikipedianer-Dasein nüchtern betrachtet
oder für unzumutbar lieblos oder gar für vergiftet erklärt wird.
Der klassische Wikipedianer der ersten Stunde – PC- und netzaffin, männlich, unter 30 –
stößt heute auf etwas ganz anderes als in der WP-Gründerzeit.
Und er guckt sich vielleicht längst nach anderem um, das gerade „angesagt“ ist,
im Spektrum irgendwo zwischen „cooles Ding“ und „easy living“.

Der Hype des neuen Netzlebens in trauter Gemeinschaft ist für heutige Wikipedianer nur mehr Legende;
aus Spaßvergnügen, Jux und Trollerei ist gemeinsam zu verantwortende, oft mühselige Meliorationsarbeit geworden –
mit rückläufigem Spiel- und Spaßfaktor, wie kaum zu verkennen ist.
Selbst wenn er möchte, gibt es für den jungdynamischen Neuwikipedianer kein ganz leichtes Hereinkommen.
Denn da sitzen ja schon die ganzen unterdessen über Dreißigjährigen
und bewachen ihren Schatz mit mehr oder minder vornehmer Zurückhaltung.



Heutiges Enzyklopädisches Vorankommen braucht zweifellos Rückhalt und Unterstützung
unter neugierig gebliebenen Freunden von Wissen und Bildung,
seien sie maturiert, studiert, examiniert, promoviert, habilitiert -
oder autodidaktisch nachhaltig inspiriert.

Dauerhaft positiv motivierte Wikipedianerinnen und Wikipedianer sind also nach der hippen Startphase der frühen Jahre,
wo der Reiz des Neuen lockte und die nahezu unbegrenzte Neulanderschließung viele zur Selbsterprobung antrieb,
zu einem durchaus knappen Gut geworden.
Das wird der bis auf Weiteres herrschende Zeitgeist auch nicht von sich aus vermehren.
Denn das Anforderungsprofil für heute aktive Wikipedianer ist nicht ohne:

In der gegenwärtigen wie in der künftigen Wikipedia werden für Themenrecherche,
Literaturverarbeitung und Artikelgestaltung reichlich Zeit und Gelegenheit gebraucht.
Nötig sind außerdem jeweils solide Portionen an Engagement und Gelassenheit,
um in dem mitunter nur scheinbar kooperativen Handgemenge bestehen zu können.
Das reduziert das Feld der dauerhaft Mitwirkenden erheblich,
denn es hängt erstens vom individuellen Menschentyp ab
(weil die Verschränkung von Motiviertheit und Gelassenheit nur begrenzt auftritt).
Zweitens hängt es von den individuellen Lebensentwürfen ab
(außer dem Wikipedianer-Dasein gibt es andere reizvolle Beschäftigungen in Hülle und Fülle).

Wenn Wikipedia also leben und sich weiterentwickeln soll,
wird man das rare Wikipedianer-Gut nicht einfach sich selbst überlassen können.
Man wird es ausdauernd suchen, finden und für das Projekt gewinnen müssen.



Auch wenn wir als Wikipedianer natürlich an einem Mehrgenerationen-Haus festhalten;
auch wenn wir für jede und jeden dankbar sind,
die mit dem Schwung und Ideenreichtum der jüngeren Jahre zum Gelingen des Ganzen beitragen:
Bei realistischer Einschätzung finden wir das rare Wikipedianer-Gut vorwiegend jenseits der Lebensmitte.
Denn bei den Motivlagen vor und nach der Midlife-Crisis (oder im Vergleich von Jüngeren und Älteren)
sind Unterschiede zu erwarten, auch was die jeweilige Disponiertheit zum online-enzyklopädischen Engagement betrifft:



Bei den jüngeren Jahrgängen findet man oft den Impuls hin zu Gleichheit und Gerechtigkeit,
eine Bereitschaft zu teilen und sich anderen mitzuteilen,
den Drang, erworbenes Wissen zu verbreiten.
Doch die Zeit dafür ist notorisch knapp, weil manches andere vorgeht

Bei den älteren Semestern, die das Leben schon allmählich auch im Rückblick genießen
und sich fragen, was sie vielleicht jenseits des beruflichen Daseins Sinnvolles bewirken können,
kommt sehr wahrscheinlich oft noch ein anderes Motiv hinzu:
Sie wollen ihr Wissen und ihre Erkenntnisse weitergeben an die ihnen folgende(n) Generation(en).
Und sie haben dafür in ihrem Tageslauf oft reichlich Zeit!

Wo wird man sie hauptsächlich antreffen,
die gesuchten reifen Qualitätsgaranten und Entwicklungshelfer der Wikipedia?
Nicht so sehr im weltweiten Netz der Beliebigkeit;
denn dort sind sie in alle Winde zerstreut und vielfach mit anderem befasst,
u. a. mit Fitnessprogrammen, Kochrezepten, Diätplänen oder Reiseangeboten.



In den Hochschulen ist konzentriert, was für enzyklopädische Gestaltung im Geiste Diderots gebraucht wird.

Gerade wenn es um die wissenschaftliche Artikelfundierung geht,
sind sie also gewissermaßen das gelobte Land der Wikipedianer.
Allgemein erübrigen aber die an Hochschulen Lehrenden und Lernenden oft nicht viel Zeit für Wikipedia:
Die einen sind mit ihren Lehr- und Forschungsaufträgen,
mit ihrer Publikationsliste oder mit Drittmitteleinwerbung befasst;
die anderen müssen sich für ihre Creditpoints ordentlich strecken,
damit Bacchelor, Master oder Promotion unter Dach und Fach kommen.

Das begrenzt das Anwerbepotential für Wikipedianer im universitären Bereich schon aus strukturellen Gründen deutlich
(von anderen bekannten, teils noch immer virulenten Widerständen unter Professoren und Dozenten abgesehen).

Wo also darf man außerdem berechtigte Erwartungen haben,
die gesuchten reifen Qualitätsgaranten und Entwicklungshelfer der Wikipedia zu finden?



Im Zentrum der Wissens- und Bildungsinteressierten aller Herkünfte –
seien es Schulen, Volkshochschulen oder Unis –
liegen alle Arten von öffentlichen Bibliotheken.
Sie vor allem verdienen als Schnittstellen und Netzknotenpunkte der Wissensrecherche
jede erdenkliche Zuwendung unsererseits.

Als Orte der Literatur- und Medienbeschaffung zu verschiedensten Zwecken
sind sie zugleich Treffpunkte der Wissensverarbeiter –
und gerade das macht sie zu Wikipedianer-Treffpunkten par excellence!



Mit dem, was sie bieten, können Bibliotheken das individuelle Wikipedianer-Leben sehr bereichern...
Zudem sind nicht wenige Bibliotheken bereits Veranstaltungsorte für Lesungen, Ausstellungen und kulturelle Aktivitäten.
Wikipedia-bezogene Angebote zum Reinschnuppern und Mitmachen
könnten also gar keinen passenderen örtlichen Rahmen und Zusammenhang finden.



Die meisten Bibliotheksleitungen würden das vermutlich sehr begrüßen,
und zwar vor allem, wenn ihre Räumlichkeiten sich dafür auch nur einigermaßen eignen.
Es käme also darauf an, Kontakte zu den Bibliotheksleitungen herzustellen und mit ihnen Absprachen zu treffen,
die auf eine möglichst nachhaltige Perspektive des Miteinanders zielen.

Bibliotheksstützpunkte von Wikipedianern sollten als offene Foren anderen Bibliotheksbesuchern zugänglich sein
und ihnen für Fragen und Anregungen bezüglich Wikipedia zur Verfügung stehen.

Die aktivierenden Impulse sind vielfältig und steigerbar:

  • einfache Demonstrationen von Fehlerkorrekturen am Laptop;
  • offenes Artikelschreiben samt Richtlinienhinweisen und –aufrufen;
  • Wikipedia-Sprech-, Beratungs- und ausgedehnte Schnupperstunden;
  • spezifische Artikelrecherche und Literaturbeschaffung vor Ort;
  • systematische Wikipedia-Einführungskurse (je nach Gelegenheit u. U. im Zusammenwirken mit ortsnahen Volkshochschulen).
  • Einsteigerkurse, und zwar bevorzugt für interessierte Bibliotheksmitarbeiter,
    die dann ihrerseits zu Multiplikatoren werden könnten.

Das würde allerdings voraussetzen, dass der inhaltliche Rahmen bzw. dass die Kernmodule
für solche Kursangebote im Voraus erarbeitet werden.

Nicht erst hier kommt die Wikimedia-Förderung als wichtiger Partner ins Spiel.



Wikimedia ist nicht erst mit Blick auf die kommende Dekade
eine unverzichtbare Schaltstelle im Entwicklungsprozess der Wikipedia:

  • als durch Statuten gebundene, insofern verlässliche und verantwortliche Organisation,
    die auf Dauer angelegt ist und für Kontinuität steht oder jedenfalls stehen sollte;
  • als teilprofessionalisiertes und dadurch einigermaßen funktionsstabiles gemeinnütziges Dienstleistungsunternehmen;
  • als in allen Frage der Außenvertretung von Wikipedianer-Aktivitäten förderliche Vermittlungsinstanz.

Unter Wikipedianern gibt es da und dort wegen zurückliegender Fehlleistungen einigen aufgestauten Missmut in Richtung Wikimedia;
als Lösung dieser Probleme kommen aber m. E. nur das Aufarbeiten und eine verbesserte Weichenstellung nach vorn in Frage,
weil im Grunde auch klar ist: Wikimedia wird gebraucht.

Partner und Dienstleister der Wikipedianergemeinschaft zu sein,
bemüht sich WMDE nach meinem Eindruck durchaus.
An dieser Partnerschaft gilt es zu arbeiten, sie zu pflegen und auszubauen.
Darin liegt für mich die zweite Grundvoraussetzung für eine auch in weiteren zehn Jahren noch erfolgreiche Wikipedia.



Drei Essentials für das Zusammenwirken von Wikimedia mit Wikipedianern
ergeben die Summe dieser Überlegungen zu der Frage,
wie sich der enzyklopädische Prozess für die Wikipedia zukunftsfest organisieren lässt:

  1. Auch Wikimedia kommt am eindeutigen Primat des enzyklopädischen Projekts
    bei Strafe der Sinnverfehlung und Selbstaufgabe nicht vorbei.
  2. Die Bemühungen um den Zugewinn neuer, qualifizierter Wikipedia-Autoren
    müssen unter allen Umständen fortgesetzt werden.
  3. Bei der Errichtung von Wikipedia- bzw. Wikipedianer-Bibliotheksstützpunkten
    wird Wikimedia als Türöffner und für Weichenstellungen gebraucht,
    z. B. wenn es dort zu Einführungskursen in die Wikipedia-Mitarbeit kommen sollte.
    Nur kontinuierlicher Rückhalt und professionelle Unterstützung seitens Wikimedia können für stabile Verhältnisse sorgen,
    ohne die ein Kurs-Entwickler-Team mit aktuellem Anspruch kaum ans Ziel kommen dürfte.