Anneliese Bretschneider

Dialektologin

Anneliese Bretschneider (* 24. August 1898 in Glauchau; † 20. November 1984 in Potsdam) war eine Sprachwissenschaftlerin, die sich besonders mit der Dialektologie des Märkischen beschäftigt hat. Sie gilt als die Begründerin des Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs.[1][2]

Leben und Wirken Bearbeiten

 
Veröffentlichung von Anneliese Bretschneider über die Arbeit am Brandenburg-Berlinischen Wörterbuch während des Zweiten Weltkrieges (1942)

Anneliese Bretschneider wirkte v. a. in Marburg, Berlin und Potsdam. Sie wurde am 24. August 1898 in eine Großhändlerfamilie im sächsischen Glauchau geboren. Sie besuchte die Schule in Werdau und machte 1917 in Zwickau ihr Abitur. 1918 nahm sie ein Studium der Germanistik, Indogermanistik und Geschichte an der Universität Jena auf und setzte es ab 1919 an der Universität Marburg fort, wo sie auch Volkskunde, Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft sowie Sanskrit und Romanistik studierte. Als Studentin von Ferdinand Wrede wurde sie 1923 mit der Arbeit „Die Sprache des Heliand und ihre dialektgeographische Entwicklung“ in Marburg promoviert. Zusätzlich legte sie an der Universität 1928 das Staatsexamen als Lehrerin an höheren Schulen ab.[3][4]

Von 1924 bis 1930 war sie in Marburg als wissenschaftliche Assistentin am Deutschen Sprachatlas und am Hessen-Nassauischen Volkswörterbuch tätig. Vermittelt durch Theodor Frings wechselte sie 1931 als Assistentin zum Atlas der deutschen Volkskunde in Berlin, wo sie bis 1932 arbeitete. Bereits seit 1927 führte sie mehrere von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft finanzierte dialektologische Forschungsprojekte durch, u. a. gemeinsam mit Ferdinand Wrede und John Meier.[5] Mehrere dieser Forschungen können als Vorarbeiten zum Projekt des Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs angesehen werden, das sie 1939 als letztes der großlandschaftlichen Wörterbücher der deutschen Dialekte begründete und das ihr Lebenswerk werden sollte.[6][7][8]

Bereits 1929 trat Bretschneider dem Kampfbund für deutsche Kultur und zum 1. August 1932 der NSDAP bei (Mitgliedsnummer 1.277.168).[9] Vermittelt durch den Erlanger Germanisten Walter Stang wurde sie Mitarbeiterin des Kulturpolitischen Archivs im Amt Rosenberg, dem 1934 gegründeten nationalsozialistischen „Überwachungsamt“, wo sie als Leiterin der Auskunftsstelle die „völkische weltanschauliche Verlässlichkeit“ von Wissenschaftlern und anderen Personen feststellte und Akten mit Informationen über Personen und Ereignisse in der deutschen Kultur anlegte. Zugleich diente sie dem Auswärtigen Amt mit ihren sprach- und volkskundlichen Kenntnissen zur wissenschaftlichen Fundierung von Besitzansprüchen an Polen. Und spätestens seit 1935 arbeitete sie dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS zu,[10][11][12] seit 1940 war sie dort als Stipendiatin unter Leitung des Germanisten Wilhelm Spengler tätig.[13] Aus Überzeugung betrieb Bretschneider die völkische Indienstnahme ihrer Forschung.[14]

Nach dem Krieg konnte Bretschneider in der DDR wissenschaftlich tätig bleiben, trotz ihrer nazistischen Gesinnung und aktiven Mitarbeit im nationalsozialistischen Apparat bis in die 40er Jahre. Sie wurde 1949 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, um das Projekt des Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs zu beenden. Dazu richtete man 1950 eine Arbeitsstelle an der Pädagogischen Hochschule in Potsdam ein, die zuerst Ernst Hadermann und von 1956 bis 1959 Anneliese Bretschneider leitete.[15][16] Von 1952 bis 1955 war Bretschneider außerdem Dozentin an der Hochschule in Potsdam.[17][18] Auch nach Ende ihrer aktiven Karriere als Wissenschaftlerin 1959 veröffentlichte sie dialektologische Arbeiten und begleitete die Herausgaben der ersten Bände des Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs mit dem neuen Projektleiter Gerhard Ising.[19] Ihr wichtigstes eigenes Werk war eine Monographie über Die Brandenburgische Sprachlandschaft, die 1981 in Westdeutschland verlegt wurde.

Anneliese Bretschneider starb 1984 in Potsdam. Ihr Grab liegt auf dem Alten Friedhof.

Veröffentlichungen (Auswahl) Bearbeiten

  • Die Heliandheimat und ihre sprachgeschichtliche Entwicklung, 1934 (Neudruck 1974)
  • Deutsche Mundartenkunde, 1934
  • Magdeburg als Kultur- und Sprachzentrum in alter und neuer Zeit, 1935
  • Die brandenburgische Sprachlandschaft, 1981
  • Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch, 4 Bände 1976–2001

Literatur Bearbeiten

  • o.A.: Brettschneider, Anneliese. In: Gerhard Oestreich (Hrsg.): Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1954. Lexikon der lebenden deutschsprachigen Wissenschaftler. Walter de Gruyter, Berlin 1954, ISBN 978-3-11-107126-8, S. 247, doi:10.1515/9783111437408.
  • o.A.: Dr. Anneliese Bretschneider verstorben. In: Geschichte und Gegenwart d. Bez. Cottbus (Niederlausitzer Studien). Nr. 19, 1985, S. 214–215.
  • Karl Bischoff: Anneliese Bretschneider zum 80. Geburtstag am 24. August 1978. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Nr. 45, 1978, S. 129–132.
  • Виктория М. Костева: Женщины-лингвисты в тоталитарных государствах ХХ века. („Linguistinnen in Diktaturen des 20. Jahrhunderts“). In: Вестник Московского государственного лингвистического университета. Гуманитарные науки. Band 857, 2022, S. 81–87, doi:10.52070/2542-2197_2022_2_857_81.
  • Gerd Simon: Blut- und Boden-Dialektologie. Eine NS-Linguistin zwischen Wissenschaft und Politik. Anneliese Bretschneider und das „Brandenburg-Berlinische Wörterbuch“. Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung Tübingen, Tübingen 1998, ISBN 3-932613-04-X.
  • Gerd Simon: Die Begründerin des „Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs“, Anneliese Bretschneider. In: Peter Walther (Hrsg.): Die Dritte Front. Literatur in Brandenburg 1930–1950. Berlin 2004, S. 56–61.
  • Dieter Stellmacher: Anneliese Bretschneider 1898–1984. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Nr. 52, 1985, S. 1–4.
  • Joachim Wiese: A. Bretschneider zum Gedächtnis. In: Brandenburgische Neueste Nachrichten. 16. Februar 1985.

Weblinks Bearbeiten

Commons: Anneliese Bretschneider – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Band 1. Walter de Gruyter, 2012, 24. Brandenburgisch-Berlinisches Wörterbuch, S. 11.
  2. Gerd Simon: Die Begründerin des "Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs", Anneliese Bretschneider. In: Peter Walther (Hrsg.): Die Dritte Front. Literatur in Brandenburg 1930–1950. Berlin 2004, S. 56–61.
  3. Gerd Simon: Die Begründerin des "Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs", Anneliese Bretschneider. In: Peter Walther (Hrsg.): Die Dritte Front. Literatur in Brandenburg 1930–1950. Berlin 2004, S. 56–61.
  4. Ekkehard Henschke: Rosenbergs Elite und ihr Nachleben: Akademiker im Dritten Reich und nach 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, 2.4.4 Das Kulturpolitische Archiv und das Netzwerk der Anneliese Bretschneider, S. 107–108.
  5. Anneliese Bretschneiders Forschungsprojekte zwischen 1927 und 1942 in der Datenbank der DFG
  6. Dieter Stellmacher: Anneliese Bretschneider 1898–1984. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Nr. 52, 1985, S. 1–4.
  7. Gerd Simon: Die Begründerin des "Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs", Anneliese Bretschneider. In: Peter Walther (Hrsg.): Die Dritte Front. Literatur in Brandenburg 1930–1950. Berlin 2004, S. 56–61.
  8. Ekkehard Henschke: Rosenbergs Elite und ihr Nachleben: Akademiker im Dritten Reich und nach 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, 2.4.4 Das Kulturpolitische Archiv und das Netzwerk der Anneliese Bretschneider, S. 107–108.
  9. Bundesarchiv R 9361-IX KARTEI/4440599
  10. Gerd Simon: Blut- und Boden-Dialektologie. Eine NS-Linguistin zwischen Wissenschaft und Politik. Anneliese Bretschneider und das "Brandenburg-Berlinische Wörterbuch". Tübingen 1998.
  11. Gerd Simon: Die Begründerin des "Brandenburg-Berlinischen Wörterbuchs", Anneliese Bretschneider. In: Peter Walther (Hrsg.): Die Dritte Front. Literatur in Brandenburg 1930–1950. Berlin 2004, S. 56–61.
  12. Ekkehard Henschke: Rosenbergs Elite und ihr Nachleben: Akademiker im Dritten Reich und nach 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, 2.4.4 Das Kulturpolitische Archiv und das Netzwerk der Anneliese Bretschneider, S. 107–108.
  13. Wissenschaftliche Auswertung kriegswichtiger Literatur. In: GEPRIS Historisch (1920–1945). Deutsche Forschungsgemeinschaft, abgerufen am 4. Januar 2022: „Auftraggeber war der Leiter der Abteilung III A der Sicherheitspolizei und des SD, Dr. Wilhelm Spengler (geb. 19.3.1907)“
  14. Joachim Gessinger: Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte. De Gruyter Mouton, Berlin 2008, S. 2674–2699, doi:10.1515/9783110194173-029: „wurde das traditionelle, vorwiegend dialektologisch und volkskundlich orientierte Programm weitergeführt, dessen völkische Indienstnahme vor allem Anneliese Bretschneider in den 30er Jahren aus Überzeugung betrieben hatte“
  15. Geschichte des Archivs. In: Universität Potsdam. 2. Juni 2017, abgerufen am 5. Januar 2021.
  16. Kostbares Gut – An der Universität Potsdam werden ausgefüllten Fragebögen des Brandenburg-Berlinischen Spracharchivs digitalisiert und so für kommende Generationen erhalten. In: Universität Potsdam. 16. Januar 2018, abgerufen am 4. Januar 2021.
  17. Gerd Simon: Blut- und Boden-Dialektologie. Eine NS-Linguistin zwischen Wissenschaft und Politik. Anneliese Bretschneider und das "Brandenburg-Berlinische Wörterbuch". Tübingen 1998.
  18. Ekkehard Henschke: Rosenbergs Elite und ihr Nachleben: Akademiker im Dritten Reich und nach 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, 2.4.4 Das Kulturpolitische Archiv und das Netzwerk der Anneliese Bretschneider, S. 107–108.
  19. Walter Krüger: Wo die Libellen Himmelspferde heißen. Brandenburg-Berlinisches Wörterbuch erschienen. Gespräch mit Anneliese Bretschneider. In: Märkische Union. Nr. 252, 1968, S. 9.