Über die Zeit

Buch vom Soziologen Norbert Elias

Norbert Elias beschreibt in seinem Buch Über die Zeit die Entwicklung des Zeit-Bewusstseins im Zusammenhang seiner Zivilisierungstheorie, die er in seinem Werk Über den Prozeß der Zivilisation (1939) erstmals vorstellte.

Einige Bemerkungen über die Zeit Bearbeiten

Die historische Entwicklung der Zeitbestimmer – Kalender und Uhren –, sowie die davon unabtrennbare Entwicklung der menschlichen Erfahrung dessen, was wir heute „Zeit“ nennen – das Zeitbewusstsein – ist ein Teil des Zivilisationsprozesses. "... als Mittel der sozialen Diagnose, ist das Auftreten des Zeit-Zwangs, von dem im Text des Buches mehr zu lesen ist, und das Verhalten von „Gesellschaft“ und „Individuum“, dem man in diesem Zusammenhang begegnet, besonders aufschlussreich." Um gleich dem metaphysischen Beigeschmack, der oft der "Zeit" angedichtet wird, entgegenzutreten, hier eine Definition von Elias: "Das Wort „Zeit“, ..., ist ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe, also eine Gruppe von Lebewesen mit der biologischen Fähigkeit zur Erinnerung und zur Synthese, zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für den oder die anderen standardisiert."

Die Entwicklung der Zeitbestimmer Bearbeiten

Zeitbestimmer sind Instrumente, die sich Menschen für ganz bestimmte Zwecke geschaffen haben. Sie sind ein Teil der von Menschen geschaffenen Symbole. Die Entwicklung der Zeitbestimmer wie Uhren und Kalender ist eng verknüpft mit der Entwicklung der Gesellschaft. Je ausdifferenzierter die Gesellschaft, desto ausdifferenzierter die Zeitbestimmer, desto mehr stimmen die sozialen Zeitbestimmer mit der natürlichen Zeit überein, desto mehr verinnerlichen die Menschen die soziale Zeit.

Der Kalender Bearbeiten

Bei der Entwicklung der Kalender weist Elias nach, dass das soziale Kalenderjahr dem natürlichen Jahr – dem Sonnenjahr – immer besser angepasst wird. Es gibt in der Historie zwei große Kalenderreformen in der abendländischen Gesellschaft. Die erste Kalenderreform führt Julius Caesar 46 v. Chr. durch. Da der Julianische Kalender nicht exakt dem Sonnenjahr entspricht, das Julianische Jahr ist um 0,0078 Tage zu lang, rückt das Osterfest im Lauf der Jahrhunderte allmählich vor. Gregor XIII. beseitigt 1582 das Problem mit seiner Kalenderreform, welche von der nicht-katholischen Welt z. T. erst im 20. Jahrhundert übernommen wurde.

Elias fasst dies Geschehen wie folgt zusammen: "Schritt für Schritt, im Laufe einer tausendjährigen Entwicklung, ist das einst beunruhigende Kalenderproblem mehr oder weniger gelöst worden. Und da Kalender heute kaum mehr Schwierigkeiten bereiten, streichen die Menschen die Vergangenheit, als sie noch Schwierigkeiten machten, aus ihrem Gedächtnis." Dass der heutige Kalender trotzdem noch Probleme bereitet – unterschiedliche Anzahl der Monatstage, Schaltjahre, ungleiche Anzahl der Tage in den vier Quartalen beziehungsweise der Halbjahre und so weiter – zeigt sich in den Reformversuchen in unserem Jahrhundert – der letzte Reformversuch fand 1953 statt.

Kalender können, neben der aktuellen Synchronisierung von Ereignissen, zwei andere Aufgaben erfüllen. Zum einen als Ära-Zeitskala, "die es den lebenden Generationen ermöglichte, ihren eigenen Platz in der Generationsabfolge präzise zu bestimmen. Die Ausarbeitung einer derartigen nicht-wiederkehrenden Zeitskala wirft besondere Probleme auf." Sie war erst möglich, "als soziale Einheiten wie Staaten oder Kirchen den Charakter eines langdauernden Wandlungskontinuums gewannen, innerhalb dessen lebende Gruppen – gewöhnlich herrschende Gruppen – es um der Funktionsfähigkeit ihrer Institutionen willen für nötig erachteten, die Erinnerung an die Kontinuität dieser Institutionen in einer präzisen und artikulierten Weise lebendig zu halten."

Die andere Aufgabe des Kalenders als Alters-Zeitskala, ermöglicht es heute jedem Menschen genau zu bestimmen, wie alt er ist. "Diese Zuordnung zeitlicher Maßzahlen dient jedoch nicht allein als Kommunikation über unterscheidende Quantitäten; sie erhält ihre volle Bedeutung erst als kommunizierbare symbolische Abkürzung für bekannte biologische, psychologische und soziale Unterschiede und Veränderungen von Menschen."

Die Uhren Bearbeiten

Die Verbreitung der mechanischen Uhren findet erst im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts statt. Davor sind Sonnenuhren und Auslaufwasseruhren (Klepsydren) bekannt. Gerhard Dohrn-van Rossum vermutet im klösterlichen Bereich die Entwicklung des Hemmungsmechanismus, der den technischen Durchbruch der mechanischen Uhr herbeiführt. Im Kloster ist der Bedarf einer genauen Zeitbestimmung gegeben, „weil der klösterliche Tageslauf einen für die regelkonforme Sequenz der vorgeschriebenen Offizien kritischen, tageslichtunabhängigen Anfangszeitpunkt hatte. Die Offizien mussten nach Mitternacht, aber vor dem Morgengrauen beginnen.“ Vor der Zeitbestimmung durch Wasseruhren und später durch Sanduhren, wurde dieser Zeitpunkt zum Beispiel durch Sternenverlauf, die Abbrandzeit von kalibrierten Kerzen oder den Hahnenschrei, ermittelt.

Innerhalb des städtischen Lebens im 14. Jahrhundert wird durch akustische Signale vieles geregelt und organisiert. „Die alltägliche akustische Kulisse einer mittelalterlichen Großstadt wirkte auf Fremde sicher wie ein buntes und verwirrendes Dauergeläut, für die Einheimischen war sie ein Kommunikationssystem, dessen Leistungsfähigkeit nicht unterschätzt werden sollte.“ Dieses Kommunikationssystem lässt den Bedarf erkennen, die verschiedenen Tätigkeiten der Menschen zu synchronisieren. Zum einen wird der Bedarf zurückgeführt auf die Bevölkerungszunahme in den Städten. Zum anderen wird dies zurückgeführt auf die Ausdifferenzierung des Lebens in den Städten. Durch das Signalsystem wird das Zusammenleben der Menschen besser organisiert.

Der Stundenschlag der Turmuhren ist zunächst nur ein zusätzliches Signal im städtischen Leben. Zuerst führt Italien Turmuhren mit Beginn des 14. Jahrhunderts ein. „Der Gebrauch der modernen Stunden folgt der Verbreitung der stundenschlagenden Turmuhren in Europa fast zeitgleich.“ Aber die italienische Zählung der Stunden setzt sich nicht durch, weil der Beginn der Zählung tageslichtabhängig ist und 24 Glockenschläge benötigt.

Gerhard Dohrn-van Rossum führt einige innovationsförderliche Faktoren zur Beschaffung einer städtischen Uhr auf. Landesherren und Stadtfürsten sind es zunächst, "die für die Einrichtung öffentlicher Uhren in ihren Städten, aber auch Residenzen sorgen." Im Fall der Erhebung einer Sondersteuer, stößt dies aber in den Städten auf Widerstand. Der nächste Faktor bezieht sich auf die zwischenstädtische Prestigekonkurrenz. Nach Dohrn-van Rossum ist jedoch nicht auszumachen, dass Kaufleute, Kirchen oder andere Gruppen einer Stadt Uhren für ihre Stadt fordern. Der Widerstand gegen Uhren erhebt sich innerhalb der Stadt geringer als in den Dörfern. "Die Bauern waren von der Notwendigkeit des Stundensignals nicht überall überzeugt und verweigerten ihren Beitrag vor allem dann, wenn sie außerhalb der akustischen Reichweite des Zeitsignals lebten." Innerhalb der Stadt entwickelt sich also ein anderes Zeitgefühl als auf dem Land. Wenn die Behauptung von Dohrn-van Rossum bezweifelt werden darf, dass keine spezielle Gruppe innerhalb der mittelalterlichen Stadt die Anschaffung einer Uhr fordert, so steht mit Sicherheit fest, "daß sie (die Uhren) alsbald zur Regulierung des Arbeitstages verwandt" werden.

Dohrn-van Rossum weist auch darauf hin, dass „die wachsende Bedeutung tageszeitlicher Präzisierung ... sich schon vor dem Auftauchen der neueren Zeitmesser verfolgen (lässt).“ Auch nach der Einführung von öffentlichen Uhren sind diese nicht bestimmend für Diätenkürzungen oder Geldstrafen bei Unpünktlichkeit in Gremiensitzungen der Stadt. Hier werden Strafen erst fällig nach Ablauf eines Viertelstundenglases, welches in den Sitzungen Anwendung findet.

Schulen sind eine wichtige Institution zur Förderung eines neuen Zeitgefühls innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft. "... Uhrzeitregelungen begrenzten zunächst die Dauer des täglichen Unterrichts und setzten die Arbeitszeit der Lehrer fest." Wegen ihrer vielfältigen Aufgaben in dieser Gesellschaft, kann die verfügbare Zeit der Lehrer so besser koordiniert werden. Ein weiterer Aspekt von Dohrn-van Rossum sagt aus, dass "die ständige Vermehrung der zu lesenden Bücher ... zunehmenden Zeitdruck" erzeugt. Dies führt bei den damaligen humanistischen Didaktikern zu der Vorstellung, dass "dem Zeitdruck nur durch Ordnung, Methode und Planung zu begegnen" sei.

Der kurze Überblick auf die Entwicklungsgeschichte der Kalender und Uhren zeigt, wie durch die Ausdifferenzierung des städtischen Lebens im Mittelalter, mit dem Anwachsen der Bevölkerung, die Bedürfnisse der Menschen nach Koordinierung und Synchronisierung ihrer Tätigkeiten gesteigert wird. Dieser Prozess ist nach Elias ungeplant und ungewollt, hat aber eine eigene Struktur. Wendorff fasst die Entwicklung der Zeitbestimmer wie folgt zusammen: "Die Entwicklung eines Bedürfnisses nach deutlicher und zuverlässiger, stets zur Verfügung stehender Zeitgliederung und Zeitmessung findet irgendwann Unterstützung durch neue Erfindungen. Dieses zeitliche Zusammentreffen von Bedarf und technischer Verwirklichung ist faszinierend. Uhren und Kalender verstärken das Zeitbewusstsein, das Ernstnehmen und Nutzen von Tagen und Jahren, das Verantwortungsgefühl für die praktischen Möglichkeiten von Zukunft. Die funktionelle Ergänzung von Uhr und Kalender wird uns heute an der weit verbreiteten Taschenuhr mit Kalenderangabe besonders anschaulich demonstriert."

Die Entwicklung der Zeitbestimmung Bearbeiten

Wie oben schon beschrieben, ist "das, was wir „Zeit“ nennen, ein oft recht komplexes Netzwerk von Beziehungen ... und daß Zeitbestimmen im wesentlichen eine Synthese, eine integrierende Tätigkeit darstellt." Die heutige Form des Zeitbestimmens ist "naturzentriert" und ist eine Abzweigung "von der älteren, menschenzentrierteren Form des Zeitbestimmens, ...." In vielen Untersuchungen über die "Zeit" findet man die Unterscheidung zwischen sozialer und physikalischer Zeit, die wohl ähnliches ausdrücken soll. "Die Schwierigkeit ist, daß die „Zeit“ nicht in das begriffliche Schema dieses Dualismus paßt; wie andere Gegebenheiten entzieht sie sich einer Klassifizierung als „natürlich“ oder „sozial“, „objektiv“ oder „subjektiv“: sie ist beides in einem." Zeitbestimmen soll also als ein Prozess gesehen werden von einer "menschenzentrierten" Form zu einer "naturzentrierten" Form, als ein Prozess, in dem der Mensch die Natur immer mehr unterwirft.

Elias unterscheidet weiter die passive und aktive Zeitbestimmung. In früheren Gesellschaften findet hauptsächlich passive Zeitbestimmung statt und besteht heute zum Teil noch fort. Beim passiven Zeitbestimmen wird den Bedürfnissen sofort nachgegeben: man isst, wenn man Hunger hat, und legt sich schlafen, wenn man müde ist. Aktiver wird die Zeitbestimmung mit Beginn des Ackerbaus. Die Pflanzen müssen zur rechten Zeit ausgesät und geerntet werden. In modernen Gesellschaften werden Menschen dazu gezwungen, "ihre physiologische Uhr an einer sozialen Uhr auszurichten und so zu disziplinieren."

Heide Inhetveen unterscheidet beispielsweise bei Bäuerinnen Handlungszeit und Ereigniszeit. Die Handlungszeit zeigt, wie die passive Zeitbestimmung von der Tätigkeit als Bäuerin aktiv überformt wird. Die Ereigniszeit, wie das Leben als Zeit erinnert wird, "die sich aus mehr oder weniger spektakulären Einzelereignissen konstituiert: ...". Barbara Müller betont, "daß die extreme Linearisierung von Zeit in der Arbeitszeit ein Stillstellen von Zeit, die Zerstörung von Zeit überhaupt bewirkt." Am Beispiel eines Schichtarbeiters wird deutlich, dass die Versuche "„das Beste aus der Schichtarbeit zu machen“, ... ein Kampf mit der Zeit (bleibt), der immer auch ein Kampf um die Zeit ist, Zeit zum Leben." An der angegebenen Stelle finden sich noch weitere Beispiele, wie nicht nur die passive Zeitbestimmung der Menschen verdrängt wird, sondern auch die aktive Zeitbestimmung nicht mehr in der Verfügungsgewalt der einzelnen Menschen liegt. "Linearisierte und homogenisierte Zeit wird vom Menschen bewußt geplant und verplant und kann damit -...- der unmittelbaren Verfügung anderer entzogen werden. Hier wird Zeit selbst zum interessengesteuerten Machtfaktor – Zeit wird unmittelbar zum Herrschaftsinstrument."

Siehe auch Bearbeiten

Primärliteratur Bearbeiten

  • Norbert Elias: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt am Main 1984
  • Norbert Elias: Was ist Soziologie? 3. Auflage, München [1970] 1978
  • Norbert Elias: Was ich unter Zivilisation verstehe. Antworten auf Hans Peter Duerr. In: Die Zeit, Nr. 25 vom 17. Juni 1988, S. 37f
  • Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde., 17. Auflage, Frankfurt am Main [1939] 1992

Sekundärliteratur Bearbeiten

  • Wolfgang Deppert: Zeit. Die Begründung des Zeitbegriffs, seine notwendige Spaltung und der ganzheitliche Charakter seiner Teile. Steiner, Stuttgart 1989. ISBN 3-515-05219-4, ISBN 978-3-515-05219-1
  • Gerhard Dohrn-van Rossum: Zeit der Kirche – Zeit der Händler – Zeit der Städte. In: Zoll, Rainer (Hrsg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt am Main 1988
  • Gerhard Dohrn-van Rossum: Schlaguhr und Zeitorganisation. Zur frühen Geschichte der öffentlichen Uhren und den sozialen Folgen der modernen Stundenrechnung. In: Wendorff, Rudolf (Hrsg.): Im Netz der Zeit. Menschliches Zeiterleben interdisziplinär. Stuttgart 1989
  • Gerhard Dohrn-van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitrechnung. München/Wien 1992
  • Heide Inhetveen: Schöne Zeiten, schlimme Zeiten – Zeiterfahrungen von Bäuerinnen. In: Rainer Zoll (Hrsg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt am Main 1988
  • Barbara Müller: Das Zeitregiment der Bandarbeit oder: Das Menschliche ist die Pause. In: Rainer Zoll (Hrsg.): Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit, Frankfurt am Main 1988