Turner-Syndrom

karyotypisch diagnostiziertes Syndrom
Klassifikation nach ICD-10
Q96.- Turner-Syndrom
Q96.0 Karyotyp 45,X
Q96.1 Karyotyp 46,X iso (Xq)
Q96.2 Karyotyp 46,X mit Gonosomenanomalie, ausgenommen iso (Xq)
Q96.3 Mosaik, 45,X/46,XX oder 45,X/46,XY
Q96.4 Mosaik, 45,X/sonstige Zelllinie(n) mit Gonosomenanomalie
Q96.8 Sonstige Varianten des Turner-Syndroms
Q96.9 Turner-Syndrom, nicht näher bezeichnet
ICD-10 online (WHO-Version 2019)
Karyogramm 45,X
Flügelfell: Form des Halses kann beim Ullrich-Turner-Syndrom auftauchen. Das Mädchen ist vor und nach der Operation gezeigt.

Das Turner-Syndrom, auch Ullrich-Turner-Syndrom (UTS), Monosomie X oder Status Bonnevie-Ullrich (Bonnevie-Ullrich-Syndrom), ist eine bei Frauen auftretende angeborene Erkrankung, deren Ursache eine Monosomie ist. Bei dieser Chromosomenaberration befindet sich in den Körperzellen an Stelle von zwei Geschlechtschromosomen (XX oder XY) nur ein funktionsfähiges X-Chromosom.

50 % der betroffenen Frauen haben den Karyotyp 45,X (oder 45,X0), während etwa 40 % der Betroffenen ein Mosaik aufweisen, in dem sowohl Zellen mit einem als auch Zellen mit zwei oder mehr X-Chromosomen vorhanden sind.

Benennung Bearbeiten

Im Jahr 1930 veröffentlichte der deutsche Kinderarzt Otto Ullrich die Beschreibung eines 8-jährigen Mädchens mit den typischen Auffälligkeiten des Ullrich-Turner-Syndroms und vermutete eine Ursache im Erbgut, weil keine Ähnlichkeit mit den Eltern bestand. Morgagni soll allerdings schon 1768 eine zutreffende Beschreibung der Erkrankung geliefert haben.[1] Der US-amerikanische Endokrinologe Henry H. Turner (1892–1970)[2] beschrieb 1938 dann als Erster mehrere Fälle mit auffälligen Gemeinsamkeiten und damit ein Syndrom.[3] Erst 1959 wurde die zugrundeliegende Chromosomenstörung erkannt.[4] Da es Vermutungen gab, dass das von Ullrich beschriebene Mädchen vielleicht eine andere Krankheit gehabt hätte, hat ein Schüler Ullrichs 1987 die nun 66-jährige Frau ausfindig gemacht und bei ihr den Karyotyp 45,X0 bestätigt.[5]

Ursache Bearbeiten

Die Ursache des Syndroms ist eine fehlerhafte Verteilung der Geschlechtschromosomen meist während der postmeiotischen Keimzellteilung, also der Entwicklung von Spermium oder Eizelle der Eltern. Meistens findet der Fehler auf der väterlichen Seite statt, das heißt bei der Spermatogenese wird ein Spermium mit nur 22 Chromosomen gebildet (anstatt 23,X oder 23,Y). Theoretisch kann das mit allen Chromosomen passieren, es kann jedoch nur bei den Gonosomen zu einem lebensfähigen Organismus führen; allerdings enden auch 95–99 % der 45,X-Schwangerschaften mit einer Fehlgeburt. Diese Chromosomenanomalie ist die häufigste Ursache von Spontanaborten.[6][7] Entweder fehlt also in allen Zellen ein Gonosom komplett (45,X bzw. 45,X0), oder es gibt ein strukturell auffälliges X-Chromosom (das zweite X-Chromosom ist ringförmig oder verkleinert), oder es entsteht ein Mosaik mit einem sogenannten Marker Chromosom (45,X/46,X,mar)[8] oder anderen Kombinationen (45,X/46,XX),(45,X/46,XY),(45,X/47,XXX).

Häufigkeit Bearbeiten

Unter 2500 Geburten von Mädchen wird eines mit einem Ullrich-Turner-Syndrom geboren. Damit gilt das Turner-Syndrom als häufigste Form der Gonadendysgenesie bei Frauen. Es wird geschätzt, dass etwa 3 % der weiblichen Embryonen eine funktionelle Monosomie X aufweisen, von denen etwa 98–99 % bereits im Verlauf der Schwangerschaft absterben, die aus diesem Grund mit einer Fehlgeburt meist innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate endet.

Häufige Merkmale Bearbeiten

Bis auf die Behandlungen der Symptome ist keine Therapie möglich.

Die Intelligenz von Mädchen oder Frauen mit Turner-Syndrom entspricht dem Durchschnitt. Auch die Lebenserwartung ist nicht herabgesetzt. Häufig wird das UTS erst im Grundschulalter aufgrund der Wachstumsverzögerung entdeckt. Dem Kleinwuchs liegt das Fehlen der zweiten Kopie des SHOX Gens zugrunde, welches ein Transkriptionsfaktor von Genen ist, die das Wachstum regulieren. SHOX liegt in der pseudoautosomalen Region 1 (PAR1) des X-Chromosoms und ist daher nicht von der X-Inaktivierung betroffen.[10] Beim Turner-Syndrom liegt damit eine Haploinsuffizienz des SHOX Gens vor, die mit rekombinantem Wachstumhormons erfolgen kann.[11]

Mädchen/Frauen mit Turner-Syndrom können ein normales Leben führen und sich durch Hormonbehandlungen ab dem 12. Lebensjahr weitgehend regelgerecht entwickeln. Die Fertilität ist allerdings in der Regel durch die wegen des Fehlens von Follikeln nicht zum Eisprung fähigen Ovarien herabgesetzt. Zu spontanen Schwangerschaften kommt es bei 2–8 % der Frauen mit Turner-Syndrom.[12] Die Wahrscheinlichkeit für eine spontane Schwangerschaft ist am höchsten beim Vorliegen eines X0/XX-Mosaiks; allerdings sind auch spontane Schwangerschaften bei Frauen mit X0/XY-Mosaik oder einer reinen Monosomie X beschrieben[13]. Künstliche Befruchtung (in-vitro-Fertilisation) kann versucht werden, führt aber häufig aufgrund fehlender Eizellen nicht zum Erfolg. Am erfolgsversprechendsten ist eine Behandlung per Eizellspende, was aber derzeit in Deutschland verboten ist.

Schwangerschaften bei Frauen mit Turner-Syndrom sind mit einem erhöhten Risiko für Mutter und Kind verbunden. Das Risiko für Fehlgeburten und kindliche Fehlbildungen ist erhöht. Frauen mit Turner-Syndrom haben ein hohes Risiko, im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt eine lebensbedrohliche Aortendissektion zu erleiden, weshalb eine intensive Überwachung der Schwangerschaft erforderlich ist.[14]

Obwohl 98 % der betroffenen Embryonen noch im Mutterleib sterben, ist das Turner-Syndrom der einzige Fall, der bei einer Unterzahl an Chromosomen eine Entwicklung zulässt. Dies ist der doppelten Gen-Aktivität des X-Chromosoms zuzuschreiben, die bei Männern die mangelnde Gen-Aktivität des Y-Chromosoms ausgleicht. Auch eine Behandlung der Fehlbildungen ist möglich, wie etwa durch die Gabe von Wachstumshormonen zur Vermeidung eines Kleinwuchses. Das Wachstumshormon wird dem betroffenen Kind circa ab dem 4. Lebensjahr täglich injiziert, um Kleinwuchs zu mindern. Für diese Therapie gibt es jedoch keine absolute Erfolgsgarantie.

Normalerweise wird ab dem zwölften Lebensjahr eine Behandlung mit den weiblichen Geschlechtshormonen (Östrogenen) durchgeführt, welche die Brustbildung einleiten sollen. Später kommen noch die Progesterone hinzu, welche zum Einsetzen der Regelblutung führen.

Literatur Bearbeiten

  • Angelika Bock: Leben mit dem Ullrich-Turner-Syndrom. Reinhardt, München 2002, ISBN 3-497-01618-7.
  • Thomas Mohnike: Ein Leben mit dem Ullrich-Turner-Syndrom. (PDF) Patientenbroschüre. Illustrationen: Heide Henschel. Turner-Syndrom-Vereinigung Deutschland e. V., Frankfurt/M. 2015.
  • Klaus Sarimski: Entwicklungspsychologie genetischer Syndrome. 3. Auflage. Hogrefe, Göttingen 2003, ISBN 3-8017-1764-X.
  • Manfred Stauber, Thomas Weyerstahl: Gynäkologie und Geburtshilfe (= Duale Reihe.) Thieme, Stuttgart 2001, ISBN 3-13-125341-X, S. 34–35.
  • Natura Biologie für berufliche Gymnasien. Berufliche Oberstufe. Stuttgart 2011, ISBN 978-3-12-045306-2, S. 125.
  • Anne-Christine Ermisch: X-MAL ANDERS - Ullrich-Turner-Syndrom - ja und?! 2014 ISBN 978-3-86468-816-4, S. 144.
  • Lois Jovanovic, Genell J. Subak-Sharpe: Hormone. Das medizinische Handbuch für Frauen. (Originalausgabe: Hormones. The Woman’s Answerbook. Atheneum, New York 1987) Aus dem Amerikanischen von Margaret Auer, Kabel, Hamburg 1989, ISBN 3-8225-0100-X, S. 53, 262 f. und 386.

Weblinks Bearbeiten

Commons: Turner-Syndrom – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Andreas Winkelmann: Von Achilles bis Zuckerkandl – Eigennamen in der medizinischen Fachsprache. 2. Auflage. Bern 2009, ISBN 978-3-456-84470-1, S. 269.
  2. Heinz-Peter Schmiedebach: Turner, Henry Hubert. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1425.
  3. H. H. Turner: A Syndrome of infantilism, congenital webbed neck, and cubitus valgus. In: Endocrinology. Band 23, 1938, S. 566–574.
  4. C. E. Ford et al.: A sex-chromosome anomaly in a case of gonadal dysgenesis (Turner's syndrome). In: Lancet. Band 1, 1959, S. 711.
  5. H.-R. Wiedemann, J. Glatzl: Follow-Up of Ullrich's original Patient with "Ullrich-Turner" Syndrome. In: American Journal of Medical Genetics. Band 41, 1991, S. 134–136.
  6. Gustav-Adolf von Harnack, Berthold Koletzko: Kinder- und Jugendmedizin. Springer-Medizin-Verlag, Heidelberg 2007, ISBN 978-3-540-48632-9.
  7. Marion Kiechle: Gynäkologie und Geburtshilfe. Elsevier, Urban & Fischer, München 2011, ISBN 978-3-437-42407-6.
  8. Heinrich Schmidt-Matthiesen, Dietrich von Fournier: Gynäkologie und Geburtshilfe Lehrbuch für Studium und Praxis. Schattauer, Stuttgart 2004, ISBN 3-7945-2260-5.
  9. M. Macsai, E. Maguen, P. Nucci: Keratoconus and Turner’s syndrome. In: Cornea. Band 16, Nummer 5, September 1997, S. 534–536, PMID 9294684; air.unimi.it (PDF; 251 kB)
  10. Terje Raudsepp, Bhanu P. Chowdhary: The Eutherian Pseudoautosomal Region. In: Cytogenetic and Genome Research. Band 147, Nr. 2-3, 2015, ISSN 1424-8581, S. 81–94, doi:10.1159/000443157, PMID 26730606 (karger.com [abgerufen am 5. Februar 2021]).
  11. Jung Min Ahn, Jung Hwan Suh, Ah Reum Kwon, Hyun Wook Chae, Ho-Seong Kim: Final Adult Height after Growth Hormone Treatment in Patients with Turner Syndrome. In: Hormone Research in Paediatrics. Band 91, Nr. 6, 2019, ISSN 1663-2818, S. 373–379, doi:10.1159/000500780, PMID 31480041, PMC 6878727 (freier Volltext) – (karger.com [abgerufen am 5. Februar 2021]).
  12. Patricia Oppelt, Helmuth Dörr: Ullrich-Turner-Syndrom. Gynäkologische Aspekte bei der Betreuung von Mädchen und jungen Frauen. In: korasion. Nr. 4, November 2013.
  13. Anna Hagman et al.: Obstetric outcomes in women with Turner karyotype. In: Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism. Band 96, Nr. 11, November 2011, S. 3475–3482.
  14. Laura Cabanes, Celine Chalas et al.: Turner Syndrom and pregnancy: clinical practice. Recommendations for the management of patients with Turner Syndrom before and during pregnancy. In: European Journal of Obstetrics & Gynecology and Reproductive Biology. Nr. 152, 2010, S. 18–24.