Mahnwache

friedliche Demonstration

Eine Mahnwache ist eine friedliche Demonstration, bei der auf eine als gesellschaftlichen Missstand wahrgenommene Situation hingewiesen werden soll. Es handelt sich dabei um in der Regel längerfristige, meist schweigende Vorhaben von Gruppen. Diese Demonstrationsform zählt zu den 198 Methoden gewaltfreien Handelns.[1] Der Begriff geht zurück auf das englische vigil und wurde 1958 im Aktionskreis für Gewaltlosigkeit durch den jungen Glasermeister Jürgen Grimm „erfunden“.[2] Bereits 1917 wurde in Washington/USA eine mehrwöchige silent vigil durch die Frauenrechtsbewegung durchgeführt.[3]

Erste Mahnwache in Deutschland (1958)
Mahnwache für Frieden (USA 2012)

Mahnwachen erinnern häufig an traurige Ereignisse und finden in stiller Atmosphäre statt. Dennoch sind sie politisch motiviert oder wenden sich an die Öffentlichkeit, wodurch sie sich von einer Trauerveranstaltung unterscheiden.

Geschichte Bearbeiten

Anfänge deutscher Mahnwachen Bearbeiten

Die erste deutsche Mahnwache fand im Frühsommer 1958 vor dem Hamburger Rathaus im Anschluss an die – vom DGB/SPD-Ausschuss „Kampf dem Atomtod“ organisierte – größte Demonstration der Nachkriegsgeschichte mit weit über 120.000 Teilnehmern statt. Durch sie protestierte der kleine Hamburger Aktionskreis für Gewaltlosigkeit (Mitglieder der WRI) 14 Tage und Nächte gegen die geplante Atombewaffnung. Aus England kamen zu dieser Mahnwache die WRI-Aktivistinnen April Carter und Pat Arrowsmith, aus USA WRI-Ratsmitglied Bayard Rustin.[2][4]

Mahnwachen in der DDR Bearbeiten

Mahnwachen wurden Ende der 1980er Jahre zu einer entscheidenden Protestform gegen die Politik der SED. Als das Ministerium für Staatssicherheit im November 1987 Mitarbeiter der Ost-Berliner Umwelt-Bibliothek verhaftete, protestierten DDR-Oppositionelle binnen weniger Stunden mit einer ununterbrochenen Mahnwache an der Zionskirche, bis alle Verhafteten wieder freigelassen wurden.[5] Die Mahnwache wurde in den Medien der DDR diffamiert.[6][7]

Nachdem am 11. September 1989 auf dem Leipziger Nikolaikirchhof Demonstranten verhaftet worden waren, unter denen sich die Bürgerrechtlerin Katrin Hattenhauer befand (vgl. auch Friedliche Revolution (Leipzig)), begann am 2. Oktober 1989 eine ständige Mahnwache an der Ost-Berliner Gethsemanekirche, die bald zu einem Kristallisationspunkt der Friedlichen Revolution wurde.[8] Gefordert wurde die Freilassung der „zu Unrecht Inhaftierten“ sowie Presse- und Meinungsfreiheit.[9]

 
Mahnwache gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21

Nach 2000 Bearbeiten

Mahnwachen finden etwa wegen rassistischer Morde, Krieg aber auch wegen gesellschaftlicher sowie politischer Missstände statt. Beispielsweise:

  • 2005 die Mahnwache für Hatun Sürücü, die von ihrem jüngsten Bruder ermordet wurde, nachdem sie sich einer Zwangsehe widersetzen wollte.
  • Die Leipziger Mahnwachen für zwei Ende Januar 2006 im Irak verschleppte Ingenieure einer sächsischen Firma für Anlagenbau, die der Nikolaikirchenpfarrer Christian Führer mitinitiiert hatte und bis zur Freilassung der beiden Männer Anfang Mai aufrechterhielt.
  • Im G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 wurden in Zaunnähe Mahnwachen aufgestellt, jedoch durften an diesen nur maximal 50 Leute verweilen.[10]
  • In der zweiten Hälfte des Jahres 2007 wurden von Sascha Weiss Mahnwachen organisiert, um auf das Schicksal seines minderjährigen Bruders Marco aufmerksam zu machen. Dieser war in der Türkei monatelang in U-Haft gehalten worden, ohne dass das Verfahren gegen ihn nennenswert vorangekommen wäre. Letztlich wurde er ohne Auflagen freigelassen und konnte in seine Heimat zurückkehren.[11]
  • Im Rahmen des Widerstands gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 steht seit dem 17. Juli 2010 eine Mahnwache am Stuttgarter Hauptbahnhof. Zunächst 2 Wochen lang am Nordflügel, dann am Nordausgang des Bahnhofs, seit dem 28. April 2012 an der Ecke Arnulf-Klett-Platz/Königstraße. Sie ist seit Beginn durchgehend und rund um die Uhr besetzt. Am 15. August 2020 feierte diese Mahnwache ihre Wiedereröffnung nach einigen Monaten Corona-Krisen-bedingter Zwangspause, nebst dem 10-jährigen Jubiläum vier Wochen zuvor.[12][13] Die Folge vom 29. Januar 2019 der Satiresendung Die Anstalt brachte eine Hommage an diese Mahnwache: „Ihr habt gar nichts erreicht. Ihr habt nur Recht. Sonst nichts. […] Ja, ihr habt die Experten. […] Haltet durch, denn ihr habt noch nichts erreicht.“[14][15]
  • Infolge des Tōhoku-Erdbebens im Jahr 2011 und dem damit verbundenen Atomunfall im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi in Japan, fanden in Deutschland am 14. März in mehr als 450 Orten bundesweit Mahnwachen für die Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke statt.[16]
  • Seit 2014 gibt es in Deutschland die Mahnwachen für den Frieden, bei denen Beobachter antiamerikanische, antisemitische, rechtsextreme und verschwörungsideologische Tendenzen kritisierten.
  • 2015: Nach den Terroranschlägen auf Charlie Hebdo vor der Hauptwache in Frankfurt unter dem Motto Je suis Charlie[17] und eine ebensolche Mahnwache namens Je suis juif[18] initialisiert von der deutschen jüdischen Mitbürgerin und Rechtsanwältin Elishewa Patterson, Vorsitzende des Jüdischen Kulturvereins Ostend (Frankfurt am Main).
  • Seit 2016 finden insbesondere in Berlin Mahnwachen für getötete Radfahrende und andere Verkehrsteilnehmende statt. Ursprünglich von der Initiative Volksentscheid Fahrrad angestoßen, werden die Mahnwachen nun von dessen Trägerverein Changing Cities e.V.[1] veranstaltet.[19] Der ADFC Berlin stellt ein Geisterrad für die getöteten Radfahrenden auf. Für getötete Fußgänger und Fußgängerinnen stellt Changing Cities e.V. gemeinsam mit dem VCD sowie dem FUSS e.V. eine Figur auf.[20][21] Inzwischen werden die Mahnwachen auch in weiteren Städten abgehalten.[22][23] Sie dienen dazu, Getötete im Straßenverkehr nicht länger als Kollateralschaden hinzunehmen und an die Vision Zero zu erinnern.[24]

Siehe auch Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Gene Sharp: Von der Diktatur zur Demokratie – Ein Leitfaden für die Befreiung. München 2008, S. 102
  2. a b Zeitschrift Gewaltfreie Aktion: Vierteljahreshefte für Frieden und Gerechtigkeit, 29. Jg., 2. Quartal 1997, Heft 111/112. ISSN 0016-9390, S. 66
  3. Robert Cooney, Helen Michalowski (Hrsg.): The Power of the People: Active Nonviolence in the United States. Culver City, California 1977, S. 58
  4. Karl A. Otto: Vom Ostermarsch zur APO – Geschichte der ausserparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik 1960-70. Frankfurt 1977, S. 71
  5. Fotos von der Mahnwache Zionskirche auf jugendopposition.de, gesichtet am 2. März 2017.
  6. Der Chefredakteur der Jungen Welt setzte Aktivisten der Mahnwache mit Neonazis gleich auf jugendopposition.de, gesichtet am 9. August 2010.
  7. Vgl. auch Ilko-Sascha Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009. ISBN 978-3-406-58357-5. S. 171 f.
  8. Mahnwache an der Gethsemanekirche auf jugendopposition.de, gesichtet am 9. August 2010.
  9. Aufruf der Aktionsgruppe Mahnwache Berlin Gethsemanekirche auf jugendopposition.de, gesichtet am 9. August 2010.
  10. http://g8-tv.org/index.php?play_id=1722
  11. http://www.hilfe-fuer-marco.de/
  12. Aktive Parkschützer: Presseerklärung: 7 Jahre Dauer-Mahnwache gegen Stuttgart 21: Hut ab! Abgerufen am 17. Juli 2017.
  13. Petra Mostbacher-Dix: Eine Hellebarde für die Wächter. In: Stuttgarter Zeitung. 16. August 2020, abgerufen am 16. August 2020.
  14. Max Uthoff und Claus von Wagner: Die Anstalt vom 29. Januar 2019. In: Die Anstalt. Zweites Deutsches Fernsehen, 29. Januar 2019, abgerufen am 30. Januar 2019 (Monolog von Uta Köbernick, Minute 34:30 bis 38:35).
  15. Christian Milankovic: „Die Anstalt“ geht mit Stuttgart 21 ins Gericht. In: Stuttgarter Zeitung. 29. Januar 2019, abgerufen am 30. Januar 2019.
  16. Mahnwachen in Deutschland – "Gib mir eine Fahne!", 14. März 2011, taz.de
  17. Gedenken an der Hauptwache: Kerzen für Charlie Hebdo in Frankfurter Rundschau, online
  18. Juden in Frankfurt fordern mehr Solidarität, in Frankfurter Rundschau, online
  19. Mahnwache in Berlin für tote Radfahrerin. 7. November 2022, abgerufen am 27. Juni 2023.
  20. Tödliche Verkehrsunfälle in Berlin: Drei Mahnwachen für verunglückte Fußgänger am Sonntag geplant. In: Der Tagesspiegel Online. ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 27. Juni 2023]).
  21. Gedenken: Jahr nach Amokfahrt am Ku'damm: Schweigeminute und Mahnwache. In: Die Zeit. 8. Juni 2023, abgerufen am 27. Juni 2023.
  22. Hamburg Journal: Mahnwache für bei Unfall getöteten Radfahrer | ARD Mediathek. Abgerufen am 27. Juni 2023.
  23. christoph: 07.03.2019: Mahnwache für den schwerverletzten Radfahrer in Lütten Klein. In: Radentscheid Rostock. 6. März 2019, abgerufen am 27. August 2020 (deutsch).
  24. Die vierte Mahnwache in einer Woche. 22. August 2020, abgerufen am 27. August 2020 (deutsch).
  25. Shropshire Schafhalter: Mahnfeuer- und Solidarfeuer für die eingeschränkte Ausbreitung der Wölfe
  26. Katharina Lütke Holz: Mahnfeuer für Erhalt der Weidetierhaltung
  27. Südtirol News: Mahnfeuer gegen den Wolf erleuchten die Berge
  28. Alfons Deter: Aktionstag mit Mahnfeuern gegen den Wolf
  29. Tagesschau Südtirol: Feuer gegen den Wolf
  30. Schafzucht: Europaweite Solidarfeuer
  31. La Nouvelle République.fr: Charroux: un feu contre les loups
  32. Bourgogne Franche-comté: Yonne: les éleveurs appelés à faire des feux contre le loup
  33. Jawina: Heute: Über 120 Mahnfeuer gegen den Wolf in Europa