Kölner Schule (Politikwissenschaft)

Gruppierung in der bundesdeutschen Politikwissenschaft

Die Kölner Schule der Politischen Wissenschaft (heute Politikwissenschaft), auch bekannt als Köln-Mannheimer Schule,[1] bezeichnet eine kleine Gruppe von deutschen Politikwissenschaftlern, deren Verständnis ihres Faches durch ihre wirtschaftswissenschaftliche Vorbildung und das ordnungspolitische Denken in der Ökonomie (Walter Eucken, Alfred Müller-Armack, Ordo-Liberalismus) geprägt ist. Diese Strömung ist orientiert an der empirisch-analytischen Theorie, deren Wurzeln in den Naturwissenschaften liegen.[1] Weitere einflussreiche Schulen der Politikwissenschaft waren die Marburger Schule und die Freiburger Schule.

Entwicklung, Forschung Bearbeiten

Ferdinand A. Hermens übernahm 1959 die Nachfolge von Heinrich Brüning auf dem an der Universität Köln angesiedelten Lehrstuhl für Politische Wissenschaft. Das wissenschaftliche Anliegen von Hermens „war die Etablierung einer von der ökonomischen Verhaltenslehre beeinflussten, die Rolle der Institutionen gebührend hervorhebenden empirisch-analytischen Politikwissenschaft“.[2] Seine „umfangreiche Beschäftigung mit Wahlrechtsfragen, seine detaillierten und komparativen Untersuchungen zum Mehrheits- und Verhältniswahlrecht speisen sich aus der Erfahrung des verfassungsrechtlich dysfunktional gelagerten Weimarer Reichstages und der Sorge um die Stabilität der Bundesrepublik.“[3] Dies sind die Wurzeln der sich in den folgenden Jahren und Dekaden herausbildenden Kölner und später auch Mannheimer Schule der empirischen und quantitativen Politikwissenschaft.[4]

Ausgehend von Hermens entwickelten seine Kölner Schüler, insbesondere Rudolf Wildenmann und Werner Kaltefleiter,[5] einen Zugriff auf das politische Geschehen, der die Wirkung von Institutionen auf politisches Verhalten und politische Prozesse in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. In der Tradition der Kölner Schule stehen, neben Wildenmann und Kaltefleiter, folgende Politikwissenschaftler und Absolventen am Lehrstuhl von Hermens: Georg Geismann,[6] Hans Kammler, Paul Kevenhörster,[7] Norbert Konegen,[8] Karl-Heinz Naßmacher[9] und Gerda Zellentin.

Rudolf Wildenmann, der 1962 bei Hermens habilitierte,[10] folgte 1964 einem Ruf an die damalige Wirtschaftshochschule Mannheim, die 1967 zur Universität erweitert wurde.[11] Dort betreute er u. a. die Dissertation von Uwe Schleth.[12] Wildenmann gründete 1974 schließlich das Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA), aus dem später die Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Infrastruktureinrichtungen (GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften) hervorging.[13]

Wildenmann verstand die Politikwissenschaft als eine analytisch-empirische Sozialwissenschaft, als deren akademischer Vater er auch bezeichnet werden kann. In dieser Sichtweise ist Hermens der akademische Großvater, dessen Doktorvater Joseph A. Schumpeter[14] war der Urgroßvater.[15]

Die Grundlagen des empirisch-analytischen Zugriffs der Kölner Schule wurden entfaltet in:

  • Ferdinand A. Hermens: Democracy or Anarchy? University of Notre Dame Press, Notre Dame IN 1941 (dt. Ausgabe: Demokratie oder Anarchie? Athenäum Verlag, Frankfurt/Main 1951; 2. Aufl. Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1968);
  • Ferdinand A. Hermens: The Representative Republic, Notre Dame, IN: University of Notre Dame Press, 1958 (dt. Ausgabe: Verfassungslehre. Athenäum Verlag, Frankfurt/Main 1951, 1964; 2. Aufl. Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1968).

Das Wissenschaftsprogramm der Kölner Schule erläutern drei Zitate:

  • Da „es auch auf dem Gebiet der Politik Zusammenhänge allgemeiner Art gibt, … ist die politische Form und die ihr jeweils innewohnende Dynamik einer der Faktoren, die das politische Verhalten regulieren.“[16]
  • „Politische Form umfaßt alle die Regelungen, die die Prozesse der Meinungs-, Willens- und Machtbildung und Machtkontrolle tatsächlich beeinflussen.“[17]
  • Eine so gewonnene Theorie der Politik „erlaubt Aussagen über Tendenzen politischen Handelns und Verhaltens und über den Rahmen möglicher Entscheidungen und ihrer wahrscheinlichen Folgen, ohne die Entscheidung selbst herbeiführen zu wollen oder zu können.“[18]

Das Konzept der „politischen Form“ (Hermens) verweist unmittelbar auf die „Regeln der Machtbewerbung“ (Wildenmann), zu denen neben dem jeweils geltenden Wahlverfahren (mit seinen spezifischen Wirkungen für die Umsetzung von Wählerstimmen in Parlamentsmandate) auch das Parteienfinanzierungsregime (also alle Regeln für den Zufluss öffentlicher Mittel und die öffentliche Kontrolle der Parteifinanzen)[19] gehören. Während Hermens, Wildenmann und Kaltefleiter in verschiedenen Arbeiten vor allem die Bedeutung mehrheitsbildender Wahlsysteme als zentrales Anliegen ihrer Sozialtechnologie herausarbeiteten,[20] haben Wildenmann, Schleth, Kaltefleiter und Naßmacher die Gestaltung der Rahmenbedingungen für die Parteienfinanzierung als wichtige Frage einer empirisch fundierten Demokratietheorie bearbeitet.[21] Daneben stehen als weitere Institutionen der politischen Machtausübung die Ausgabenbremse des Art. 113 GG[22] oder die Reservefunktion des Bundespräsidenten.[23]

Zahlreiche Arbeitsergebnisse der Kölner Schule erschienen in den von Hermens als Direktor des am 25. Juni 1960 errichteten Forschungsinstituts für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln[24] herausgegebenen Reihen Kölner Schriften zur Politischen Wissenschaft, Demokratische Existenz heute und Demokratie und Frieden sowie dem Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit.[25]

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. a b Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München 2001, S. 360.
  2. Joachim Detjen: Ferdinand A. Hermens (1906–1998), in: Eckhard Jesse, Sebastian Liebold (Hrsg.): Deutsche Politikwissenschaftler - Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2014, S. 355.
  3. Thomas Noetzel, Hans Karl Rupp: Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft. In: Hans J. Lietzmann, Wilhelm Bleek (Hrsg.): Politikwissenschaft. Geschichte und Entwicklung in Deutschland und Europa. Oldenbourg Verlag, München 1996, S. 84.
  4. Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München 2001, S. 270; weiterführend Schmitt-Beck, Rüdiger: Max Kaase (geboren 1935), in: Jesse, Eckhard/ Liebold, Sebastian (Hrsg.): Deutsche Politikwissenschaftler - Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Nomos-Verlag, Baden-Baden 2014, S. 397; ähnlich Kaase, Max: Rudolf Wildenmann (1921–1993), in: Jesse/ Liebold, ebenda, S. 794.
  5. Dissertation: Werner Kaltefleiter: Funktion und Verantwortung in den europäischen Organisationen. Athenäum, Frankfurt a. M. 1964.
  6. Georg Geismann: Politische Struktur und Regierungssystem in den Niederlanden. Athenäum, Frankfurt a. M. 1964.
  7. Paul Kevenhörster: Das politische System Japans. Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1969.
  8. Dissertation: Norbert Konegen: Sachverstand und politische Entscheidung im deutschen Bundestag, Köln, 1970
  9. Karl-Heinz Naßmacher: Das österreichische Regierungssystem. Große Koalition oder alternierende Regierung? Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1968.
  10. Habilitationsschrift: Rudolf Wildenmann: Macht und Konsens als Problem der Innen- und Außenpolitik. Athenäum, Frankfurt a. M. 1963.
  11. Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München 2001, S. 380.
  12. Uwe Schleth: Parteifinanzen. Eine Studie über Kosten und Finanzierung der Parteientätigkeit, zu deren politische Problematik und zu den Möglichkeiten einer Reform. Anton Hain, Meisenheim a. G. 1973.
  13. Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München 2001, S. 381.
  14. J.A. Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. 3. Aufl. Francke Verlag, München 1972.
  15. Wilhelm Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München 2001, S. 381f.
  16. Ferdinand A. Hermens, Rudolf Wildenmann: Politische Wissenschaft. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Achter Band. Stuttgart / Tübingen / Göttingen 1964, S. 390.
  17. Werner Kaltefleiter: Politische Form. In: Rudolf Wildenmann (Hrsg.): Form und Erfahrung. Ein Leben für die Demokratie, Duncker & Humblot, Berlin 1976, S. 173.
  18. Ferdinand A. Hermens, Rudolf Wildenmann: Politische Wissenschaft. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Achter Band. Stuttgart / Tübingen / Göttingen 1964, S. 391.
  19. In Deutschland sind diese Regeln im Gesetz über die politischen Parteien (ParteienG) von 1967/1994/2002 zusammengefasst.
  20. So etwa in: Ferdinand A. Hermens, Helmut Unkelbach: Die Wissenschaft und das Wahlrecht. In: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 8 (1967) Heft 1, S. 2–22. Rudolf Wildenmann, Werner Kaltefleiter, Uwe Schleth: Auswirkungen von Wahlsystemen auf das Parteien- und Regierungssystem der Bundesrepublik. In: Erwin K. Scheuch, Rudolf Wildenmann (Hrsg.): Zur Soziologie der Wahl, Köln und Opladen 1965, S. 74–112. Mit aktuellem Bezug dazu jetzt: Guido Tiemann: Ausweg Mehrheitswahl? Die politischen Konsequenzen eines Mehrheitswahlsystems in Österreich. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 42. Jg. (2013) Heft 1, S. 8f.
  21. U.a. Rudolf Wildenmann: Gutachten zur Frage der Subventionierung politischer Parteien aus öffentlichen Mitteln. Anton Hain, Meisenheim a. G. 1968. Karl-Heinz Naßmacher: Parteifinanzierung in Kanada – Modell für Deutschland? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 13 (1982), Heft 3, S. 338–359. Werner Kaltefleiter, Karl-Heinz Naßmacher: Probleme der Parteienfinanzierung in Deutschland – Möglichkeiten einer Neuordnung. In: Zeitschrift für Politik, Jg. 39 (1992), Heft 2, S. 135–160. Karl-Heinz Naßmacher: Ordnungsrahmen für eine plurale Parteiendemokratie – Das Beispiel des politischen Geldes. Edward In: Edward Keynes, Ulrike Schumacher (Hrsg.): Denken in Ordnungen in der Politik – Herausforderungen an eine anwendungsbezogene politische Wissenschaft. Peter Lang, Frankfurt/Main u. a. 1997, S. 37–61. Karl-Heinz Nassmacher: Regulation of party finance. In: Richard S. Katz, William Crotty (eds.): Handbook of Party Politics. Sage Publications, London et al. 2006, S. 446–455.
  22. Hans Kammler, Ellen Wallenhorst, Joachim Wiesner: Standing Order 78 und Artikel 113 GG. In: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Jg. 2 (1967), Heft 1, S. 46–62.
  23. Werner Kaltefleiter: Die Funktion des Staatsoberhauptes in der parlamentarischen Demokratie. Westdeutscher Verlag, Köln und Opladen 1970.
  24. politik.uni-koeln.de (Memento des Originals vom 10. Mai 2009 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.politik.uni-koeln.de
  25. Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender, 1976, 12. Aufl. Berlin / New York 1976, S. 1214.