Der Tod des Iwan Iljitsch

Buch von Lew Nikolajewitsch Tolstoi

Der Tod des Iwan Iljitsch (russisch Смерть Ивана Ильича, dt. Transkription Smert Iwana Iljitscha, Transliteration Smert' Ivana Il'iča) ist eine Erzählung von Lew Nikolajewitsch Tolstoi (deutsch Leo Tolstoi), geschrieben 1886.

Titelseite der Ausgabe von 1895
Tolstoi 1895

Aufbau und Thematiken Bearbeiten

Tolstoi beschreibt das Leben und die darin zum Tragen kommenden Lebensansichten des Gerichtsangestellten Iwan Iljitsch Golowin und dessen vorzeitigen Tod im Alter von 45 Jahren. Dramatisch dicht dargestellt werden die Existenzangst, die Angst vor den Schmerzen im Tod sowie die Machtlosigkeit und vor allem die Grausamkeit der Erkenntnis, sein Leben nicht sinnvoll gelebt zu haben.

Inhalt Bearbeiten

Die Erzählung hebt novellenartig mit der Trauerfeier des eben verstorbenen Iwan Iljitsch Golowin an, die aus der Perspektive seines ehemaligen Schulfreundes und Kollegen, des – nicht weiter betitelten – Peter Iwanowitsch, beschrieben wird. Die Perspektive, die dabei eingenommen wird, ist durchweg sarkastisch, zwar fühlt sich Peter Iwanowitsch „Iwan Iljitsch gegenüber besonders verpflichtet“, (S. 13) da er mit ihm lange bekannt war, und geht pflichtbewusst zu dessen Trauerfeier. Gleichzeitig aber macht Tolstoi sehr pointiert durch die wiederkehrenden Reflexionen Peter Iwanowitschs bei der Trauerfeier, wie er sich zu benehmen habe, damit man meine, er sei betroffen, die Ereignislosigkeit bzw. die Unwichtigkeit des Todes seines Hauptcharakters für die Bekannten klar. Selbst seine Frau beklagt sich mehr über die ihr auferlegten Mühen und die Mühen der um die Trauerfeier anfallenden Arbeit als über den Verlust ihres Mannes.

„Der Gedanke an die Leiden eines Menschen, den er so gut gekannt hatte, zuerst als munteren Schuljungen, dann als erwachsenen Kollegen, jagte plötzlich Peter Iwanowitsch, trotz des unangenehmen Bewußtseins seiner eigenen und dieses Weibes Heuchelei, einen maßlosen Schrecken ein.“

S. 23

Letztlich jedoch unbekümmert verlässt Peter Iwanowitsch die Trauerfeier, um im Anschluss den Abend mit einer Runde Kartenspiel ausklingen zu lassen.

In den folgenden Kapiteln wird mit zunehmender Fokussierung auf das Innenleben des Iwan Iljitsch Golowin dessen Leben (und seine Ansichten darüber) bis kurz vor seinem Tod wiedergegeben. Das Tempo der Erzählung bremst sich dabei zunehmend ein. Während die ca. 34 Lebensjahre noch in einem Kapitel erzählt werden, werden in den Kapiteln 3 bis 5 nur noch die Jahre bis zu seinem Todesjahr umfasst und die restlichen 7 Kapitel nur noch die rund 4 Monate seines zunehmend dramatischen Kampfes mit dem Tod.

Während die vorausgegangenen Kapitel eine eher didaktische Funktion haben und die Umstände der Erkrankung und des Auseinanderlebens zwischen Iwan Iljitsch und seiner Frau beinhalten (und somit das Außenleben beschreiben), widmet sich die zweite Hälfte der Erzählung der Charakterisierung der existenziell anmutenden Fragen des Todkranken. So heißt es beispielsweise zu einem der vielen konsultierten Ärzte über die Unfähigkeit der Medizin gegenüber dem Tod und damit dem menschlichen Schicksal,

„Sie wissen doch selber, daß Sie mir nicht helfen können. Lassen Sie mich also in Ruhe!
Wir können die Leiden wenigstens erleichtern, sagte der Doktor.
Auch das können Sie nicht. Lassen Sie mich in Ruhe!“

Über die Frage nach dem rechten Leben bzw. der Frage nach der Selbstverschuldung seines Dahinscheidens durch ein verwirktes Leben (Existenzangst) heißt es – charakteristisch für das Grundthema der Erzählung,

„Und wenn wirklich mein Leben nicht das richtige gewesen ist? Ihm kam der Gedanke, daß das, was ihm bisher noch als vollkommen unmöglich erschienen war: Er hätte so gelebt, wie er nicht hätte leben sollen – daß das die Wahrheit sei. Ihm kam der Gedanke, daß die von ihm kaum bemerkten Neigungen, sich gegen das zu wehren, was von den Hochgestellten des Lebens hochgehalten wurde, jene kaum merkbaren Neigungen, die er stets sofort unterdrückt hatte, wirklich berechtigt waren und daß alles andere nichts war: sein Dienst, seine Lebensgestaltung, seine Familie, die Interessen der Gesellschaft und des Dienstes – alles das war vielleicht nichts, nichts.“

S. 129 f.

Iwan Iljitsch Golowin stirbt schließlich unter höchsten Qualen in dreitägiger Agonie. Tolstoi beschreibt diesen Todeskampf eindringlich und mit ungewöhnlichen Metaphern und Einsichten über die Begleiterscheinungen des nahenden Todes. Zeitstillstand

„In diesen drei Tagen, in deren Verlauf die Zeit für ihn aufgehört hatte, warf er sich in jenem schwarzen Sack herum, in den ihn eine unsichtbare, unüberwindliche Kraft hineinstieß.“

S. 133

oder das Phänomen des „Lichts am Ende des Tunnels“, mit dem häufig Nahtoderfahrungen beschrieben werden,

„Plötzlich stieß ihn irgendeine geheimnisvolle Kraft in die Brust, in die Seite, benahm ihm noch mehr den Atem. Er drang in das Loch hinein, und dort am Ende des Loches leuchtete etwas auf.“

S. 134

Mit der finalen Introspektion der Gedankenwelt Iwan Iljitsch Golowins deutet Tolstoi eine kausale Beziehung zwischen Iwan Iljitschs Einsicht, dass er sein Leben verwirkt hat, und dessen Tod an. Seine Einwilligung, es noch gut zu machen – indem er durch seinen Tod den zu seinem Todesbett inzwischen hinzugetretenen Angehörigen das Leid erspart, seine Agonie weiter zu betrachten – schließt die Erzählung.

Wo ihn zuvor noch der „Gedanke, daß sein Leben gut war“ daran hinderte und diese „Rechtfertigung seines Lebens“ ihn noch „festhält“ (S. 134), siegt später die Einsicht über die Selbstverursachung seines Leides durch die Verwirkung seines Lebens und die damit verbundene Schuld am Leid anderer:

„Und plötzlich war ihm klar, daß das, was ihn quälte und nicht aus ihm heraus wollte, auf einmal herausging von zwei Seiten, von zehn Seiten, von allen Seiten. Sie taten ihm leid, er mußte etwas tun, daß sie nicht mehr zu leiden brauchten; er mußte sie retten und sich selber von den Leiden retten.“

S. 135

Interpretation Bearbeiten

Tolstois Erzählung behandelt im Kern die menschliche Angst vor dem Tod, die damit verbundene Bloßstellung der Ohnmächtigkeit gegenüber dem Schicksal und nicht zuletzt die in diesem Kontext provozierten existentiellen Fragen des (guten) Lebens.

Tolstoi suggeriert an mehreren Stellen durch Iwan Iljitschs Überlegungen eine kausale Verbindung zwischen dessen auf Gewöhnung, Behaglichkeit und Anständigkeit ausgelegtem Leben und dem frühen Tod. Das entspricht einer impliziten Kritik der geordneten, bürgerlichen Existenz und insbesondere deren Klassifizierung als gut.

Darüber hinaus zeigt Tolstoi die Machtlosigkeit der Rationalität (und damit der Wissenschaft) gegenüber dem Tod, indem er die herbeigerufenen Mediziner als Heuchler und letztlich genauso ohnmächtig wie Iwan Iljitsch beschreibt. Des Weiteren lässt Tolstoi seinen Hauptcharakter vergeblich den Versuch antreten, über Rationalisierungen seiner verzweifelten Situation Herr zu werden. Die inhärent vorhandene Kluft zwischen der rational gültigen Überlegung und ihrer praktischen Bedeutungslosigkeit (vgl. Rölli[1]) zeigt Tolstoi dabei an dem folgenden immer richtigen, aber die existentielle Wahrheit gar nicht berührenden Syllogismus, den er Kiesewetter zuschreibt,

1. Cajus ist ein Mensch.
2. Alle Menschen sind sterblich.
3. Also ist Cajus sterblich.

und lässt Iwan Iljitsch in verzweifelter Stimmung fragen, warum er denn mit diesem Cajus („der der Mensch war, der Mensch im Allgemeinen“, S. 87) gleich sein müsse, warum er also auch dessen Schicksal teilen müsse. Die Frage also, warum das Spezielle seiner Existenz, die damit verbundenen individuellen Charakteristika hinter das Diktat des Allgemeinen zurücktreten müssen, dass alle Menschen sterben:

„Cajus ist sterblich, und es ist ganz in Ordnung, daß Cajus stirbt; aber ich, Wanja, ich Iwan Iljitsch mit all meinen Gedanken und Gefühlen – das ist eine ganz andere Sache, es kann nicht sein, daß auch ich sterben muß. Das wäre zu schrecklich. – So fühlte er.“

S. 88

An dieser Stelle zeigt sich besonders deutlich, wie wenig Macht für Tolstoi die Rationalität (hier in Form der Logik) in einer Extremsituation noch hat und wie wenig Trost sie spenden kann. Insofern ist diese Passage als Rationalitätskritik deutbar.

Auf dieser Basis ist die Bewältigung der Furcht vor dem Tod argumentativ für Iwan Iljitsch unmöglich. Durch zwei Elemente aber lockert Tolstoi diese durch die Situation herbeigeführte, düstere Perspektive auf Existenz und menschliche Erkenntnis auf: Zum einen bezieht Iwan Iljitsch unreflektierten Trost aus der einfachen, freundlichen und ehrlichen Art seines bäuerlichen Dieners Gerasim. Zum anderen lässt Tolstoi Iwan Iljitsch zuletzt fast in der Art eines Märtyrers sterben, der durch seinen Tod die Leiden seiner Angehörigen beenden möchte. Außerdem deutet sich an, dass er seinen Tod über die Einsicht in die Verwirktheit seiner Existenz selbst wählt.

Vorbild für die Hauptperson war ein Freund Tolstois, Iwan Iljitsch Metschnikow, der Beamter im Gerichtswesen war. Ein detaillierter Bericht über den Tod Metschnikows von dessen Bruder, dem späteren Nobelpreisträger Ilja Iljitsch Metschnikow, diente Tolstoi als Material für die Erzählung.[2]

Ausgaben Bearbeiten

Erstausgabe:

  • Lew Nikolajewitsch Tolstoi: Plody prosweschtschenija i Smert Iwana Iljitscha. W. A. Tichanowa, St. Petersburg 1892

Übersetzungen:

  • Leo N. Tolstoj: Der Tod des Iwan Iljitsch. Dt. Bearb. v. Rudolf Kassner. Insel Verlag, Leipzig 1913, Neuausgabe 2002.
  • Leo N. Tolstoj: Der Tod des Iwan Iljitsch. In: Ders.: Erzählungen. Aus dem Russischen übersetzt von Barbara Heitkam. Nachwort von Christine Müller-Scholle. Reclam, Stuttgart 1992, ISBN 978-3-15-020211-1.
  • Leo N. Tolstoj: Der Tod des Iwan Iljitsch. Übersetzung von Johannes von Guenther. Nachwort von Konrad Fuhrmann. Reclam, Stuttgart 1992, ISBN 978-3-15-008980-4.
  • Leo Tolstoi: Der Tod des Iwan Iljitsch. Aus dem Russischen von Julie Goldbaum. Überarbeitet von Kai Kilian. Anaconda Verlag, Köln 2008.

Weblinks Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Rölli, Syllogismus des Sterbens, auf: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7904#biblio
  2. Orlando Figes: Nataschas Tanz: eine Kulturgeschichte Russlands. Berlin-Verlag, Berlin 2003, S. 372.
  3. russ. В. Я. Линков