Der Hirt auf dem Felsen (D 965), für Gesangsstimme, Klarinette und Klavier, ist die vorletzte Komposition Franz Schuberts, entstanden im Oktober/November 1828, nach zwei Gedichten von Wilhelm Müller und einem Gedicht von Karl August Varnhagen von Ense.[1]

Der Hirt auf dem Felsen (D 965, im Oktober / November 1828) – Schuberts Originalmanuskript

Entstehungsgeschichte Bearbeiten

Über die Vermittlung ihres Kollegen Johann Michael Vogl hatte die inzwischen in Berlin wirkende Wiener Sopranistin Anna Milder-Hauptmann um 1824 mit Schubert Kontakt aufgenommen, 1825 dann mehrere seiner Lieder – Die Forelle, Suleika II und Erlkönig – in Berlin erstaufgeführt und ihn gebeten, sowohl eine für sie geeignete Oper als auch Lieder zu komponieren. Sie ließ ihn über Mittelsmänner wissen, dass ihr insbesondere an einer großen mehrteiligen Gesangsszene gelegen war, wobei ihr als Vorbild der Gruß an die Schweiz[2] von Carl Blum diente, der wiederum unmittelbar auf eine ihrer populärsten Rollen anspielte, die Emmeline in Joseph Weigls Schweizer Familie,[3] einem Singspiel, das Schubert bereits als Kind kennengelernt hatte, bei einem seiner ersten Opernbesuche überhaupt. Anna Milder-Hauptmann schlug Schubert für ihre Auftragskomposition verschiedene Gedichttexte vor, einige davon hatte schon ihre Schwester Jeanette Bürde vertont.

Erst nach mehrfachem Nachfragen der Sängerin, beispielsweise noch im Herbst 1828 bei Ignaz Franz von Mosel, entschloss Schubert sich, die Idee der Szene aufzugreifen. Es entstand nun eine ungefähr 12 Minuten dauernde Komposition für Gesangsstimme (Sopran, auch Knabensopran oder Tenor), obligate Klarinette (im Erstdruck alternativ Violoncello)[4][5] und Klavier. Den Titel scheint Schubert selbst gewählt zu haben, und er entnahm den Text jenen Gedichtausgaben von Wilhelm Müller (Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten, Bde. 1&2, Dessau 1826), denen er auch die Texte zur Schönen Müllerin und Winterreise verdankte, sowie den Vermischten Gedichten von Karl August Varnhagen von Ense (Heidelberg 1816).[6]

Aufführungsgeschichte Bearbeiten

 

Die Uraufführung durch die Auftraggeberin Milder-Hauptmann, die durch Schuberts Bruder Ferdinand 1829 eine Abschrift der Vertonung erhielt, erfolgte am 10. Februar 1830 im Schwarzhäupterhaus in Riga.[7] Am 21. März schlossen sich Erstaufführungen in Wien (durch Caroline Achten) und am 14. Dezember in Berlin (durch Milder-Hauptmann) an.[8]

Tonträger-Einspielungen gibt es von Arleen Augér, Elly Ameling, Isobel Baillie, Kathleen Battle, Erna Berger, Barbara Bonney, Helen Donath, Helena Dearing, Wilma Driessen, Gabriele Fontana, Agnes Giebel, Ria Ginster, Edita Gruberová, Barbara Hendricks, Gundula Janowitz, Aline Kutan, Dame Felicity Lott, Christa Ludwig, Ann Mackay, Edith Mathis, Akiko Nakajima, Sandrine Piau, Dame Margaret Price, Lan Rao, Anna Lucia Richter, Margaret Ritchie, Sibylla Rubens, Lynda Russell, Lotte Schöne, Elisabeth Schumann, Maria Stader, Rita Streich, Ailish Tynan, Benita Valente, Maria Venuti und Edith Wiens sowie den Knabensopranen Max Emanuel Cenčić und Bejun Mehta.

Textvorlagen und Form Bearbeiten

Das Lied ist in drei längere Abschnitte gegliedert. Zunächst erfolgen in B-Dur nach einem ausführlichen Vorspiel der Instrumente elegische Klänge als klavierbegleitetes Duett zwischen dem Hirten und seiner Schalmei – Text aus Wilhelm Müllers Gedicht Der Berghirt:[9]

Wenn auf dem höchsten Fels ich steh’,
In’s tiefe Tal hernieder seh’,
Und singe.

Fern aus dem tiefen dunkeln Tal
Schwingt sich empor der Widerhall
Der Klüfte.

Je weiter meine Stimme dringt,
Je heller sie mir wieder klingt
Von unten.

Mein Liebchen wohnt so weit von mir,
Drum sehn’ ich mich so heiß nach ihr
Hinüber.

Es schließt sich ein kontrastierender resignativer Mittelteil in g-Moll, modulierend über As-Dur, a-Moll nach G-Dur an – Text aus Varnhagens Gedicht Romanze bzw. Nächtlicher Schall:[10]

In tiefem Gram verzehr’ ich mich,
Mir ist die Freude hin,
Auf Erden mir die Hoffnung wich,
Ich hier so einsam bin.

So sehnend klang im Wald das Lied,
So sehnend klang es durch die Nacht,
Die Herzen es zum Himmel zieht
Mit wunderbarer Macht.

Schließlich endet diese vorletzte Komposition Schuberts mit einer für ihn untypischen virtuosen Cabaletta wiederum in B-Dur – Text aus Wilhelm Müllers Gedicht Liebesgedanken:[11]

Der Frühling will kommen,
Der Frühling, meine Freud’,
Nun mach’ ich mich fertig
Zum Wandern bereit.

Hörbeispiel Bearbeiten

  • „Der Hirt auf dem Felsen“. Montserrat Alavedra i Comas (Sopran), William McColl (Klarinette: Mollenhauer, Fulda, 1820–1830) und Joseph Levine (Klavier) anhören/?

Literatur Bearbeiten

  • Andreas Mayer: „Gluck’sches Gestöhn“ und „welsches Larifari“ Anna Milder, Franz Schubert und der deutsch-italienische Opernkrieg. In: Archiv für Musikwissenschaft. 52, 1995, S. 171–204.
  • Hans Joachim Kreutzer: Gesangsszenen. Unvorgreifliche Bemerkungen zu Schuberts Liedauffassung. In: Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele (Hrsg.): Oper aktuell. Die Bayerische Staatsoper 2003/2004. München 2003, S. 114 ff.
  • Christian Ahrens: Schuberts „Der Hirt auf dem Felsen“ D 965 – Lied, Arie oder ‚Duett’? In: Schubert:Perspektiven. 5, 2005, S. 162–182.
  • Till Gerrit Waidelich: „Der letzte Hauch im Lied entflieht, im Lied das Herz entweicht!“ – Varnhagens Nächtlicher Schall als letzter Baustein zum Hirt auf dem Felsen. In: Schubert:Perspektiven. 8, Heft 2, 2008, S. 237–243.

Weblink Bearbeiten

Einzelnachweise Bearbeiten

  1. Dass man bis heute immer wieder irrig Helmina von Chézy als Verfasserin dieser Verse nennt, geht auf Gustav Nottebohms Schubert-Werkverzeichnis (1874) zurück, in dem er ihr den gesamten Text zuschrieb. Als jedoch Müller als Textverfasser bekannt wurde und lediglich acht Verse bei ihm nicht nachgewiesen wurden, hielt man ohne weitere Anhaltspunkte an der These fest, Chézy sei an der Textvorlage beteiligt gewesen. Vgl. M. u. L. Schochow: Franz Schubert. Die Texte seiner einstimmig komponierten Lieder und ihre Dichter, Hildesheim 1974, Bd. 2, S. 410ff. Auch Schubert selbst wurde als Verfasser der acht Verse erwogen: Friedrich Dieckmanns These lautete etwa: "Schubert selbst schreibt sich die Verse und fügt sie […] in Wilhelm Müllers Strophen ein: […]". Vgl. seinen Aufsatz "Nachthelle. Figuren des Einverständnisses in Schuberts Werk", in: F. Dieckmann, Die Freiheit ein Augenblick. Texte aus vier Jahrzehnten. Theater der Zeit (= Literaturforum im Brecht-Haus. Recherchen 10), Berlin 2002, S. 71.
  2. Später führte sie beide Werke auch im selben Konzert auf, vgl. Till Gerrit Waidelich: Franz Schubert. Dokumente 1817–1830 (Tutzing 1993) bzw. den Kommentarband von Ernst Hilmar (Tutzing 2003), Dok. 777a.
  3. Till Gerrit Waidelich: Zur Rezeptionsgeschichte von Joseph Weigls „Schweizer Familie“ in Biedermeier und Vormärz. In: Schubert: Perspektiven, 2, 2002, ebenda zu A. Milder und dem "Hirt" S. 208–232.
  4. Erstausgabe als Scan bei der Österreichischen Nationalbibliothek. Abgerufen am 25. Februar 2023.
  5. Franz Schubert. Dokumente 1817–1830 (Tutzing 1993) bzw. Kommentarband (Tutzing 2003), Dok. 777, 783, 784a, 785.
  6. Als Romanze. In: L. A. v. Chamisso, K. A. Varnhagen (Hrsg.): Musenalmanach auf das Jahr 1804. Leipzig 1804, S. 60 f. Als Nächtlicher Schall. In: Vermischte Gedichte von K. A. Varnhagen von Ense. Band 1, Frankfurt a. M. 1816, S. 15 f.
  7. Till Gerrit Waidelich: Anna Milder-Hauptmann und Der Hirt auf dem Felsen. In: Schubert 200. Katalog der Ausstellung auf Schloß Achberg […], Heidelberg 1997, S. 165–167 (mit Faksimile).
  8. Franz Schubert. Dokumente 1817–1830 (Tutzing 1993), Dok. 768, 769, 787, 789, 790, 791.
  9. books.google.de
  10. books.google.de
  11. books.google.de